Grenada

"Keine feindlichen Geheimdienste? Man kann es nicht einmal auf die Ausländer schieben? Weder die Israelis noch die Russen noch die Amerikaner noch die verweichlichten Europäer?"

3. Akt, 1. Szene


[Im dunklen Schandfleckviertel der Hauptstadt zwischen Bordellen und Meth-Laboren erhebt sich eine grausige Schinderhütte – das Hauptquartier des nationalbolschewistischen Geheimdienstes. Im Inneren verschwanden schon so einige Oppositionelle und andere Feinde des neuen Regimes. Einst eine heruntergekommene, verlassene Lagerhalle ist dieses Gebäude nun das schlagende Herz sowie das Zentralgehirn des Schwerts und Schild der Partei. Alle Nachrichten laufen hier zusammen. Jede Kriminalakte, die noch nicht verbrannt wurde, lässt sich hier finden. Über jeden Bürger wird ein Dossier geführt. Unter PRIZRAKs wachsamen und paranoiden Augen arbeiten tausende von Agenten an der Säuberung der namenlosen Republik. Ganz vorne mit dabei: die ISHEYKI, die Bluthunde des Geheimdienstchefs. Sie gehören zu den ruch- und skrupellosesten Meuchelmördern des Landes, und sie sind PRIZRAK treu ergeben. Mörder, Terroristen, abtrünnige ausländische Geheimagenten aus Schurkenstaaten und andere Gewalttäter wurden von ihm persönlich für diese Einheit ausgewählt.]

[PRIZRAK sitzt in seinem Büro, die Glühbirne flackert schwach. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Berge von Akten und Papieren. Die erst kürzlich stattgefundene Ermordung GROMs lässt ihn keine Ruhe. Er will die Übeltäter mit allen Mitteln schnellstmöglich zur Strecke bringen. Das Überleben des jungen Regimes steht schließlich auf dem Spiel!]

[Es klopft an der Bürotür.]

PRIZRAK: (grummelnd) Herein!

(Ein Mann in schwarzer Uniform kam herein, in seiner Hand eine Aktenmappe)

ISHEYKI-AGENT: (energisch römisch-salutierend) Sieg Heil, mein Kommandant!

(PRIZRAK erhebt sich knarzend von seinem Stuhl.)

PRIZRAK: (erwidert den Gruß) Dir auch ein Sieg Heil, Genosse! Was gibt es?

(Der ISHEYKI-AGENT schließt die Tür hinter sich zu. Ein Lächeln ist auf seinem Gesicht zu sehen.)

ISHEYKI-AGENT: Ich habe gute Neuigkeiten!

PRIZRAK: Exzellent, die könnte ich gebrauchen. Dieses beschissene Attentat geht mir auf die Eier …

ISHEYKI-AGENT: Um ehrlich zu sein, haben wir es doch alle kommen sehen. Nicht wahr?

PRIZRAK: Ja ja, stimmt schon. Aber musste es ausgerechnet jetzt geschehen? Diese Arschkrampen von Separatisten und die republikanischen Wichser sind schon schlimm genug. Es müssen jetzt nicht auch noch unsere hochrangigen Leute draufgehen. Wie sollen wir denn sonst einen Staat aufbauen?

ISHEYKI-AGENT: Genau deswegen wollte ich mit Ihnen sprechen, Kommandant. Wir haben, wie Sie befohlen haben, nachgeforscht – und neue Erkenntnisse hervorgebracht! PRIZRAK: (freudestrahlend) Sehr gut, ich wusste doch, dass auf meine Bluthunde Verlass ist! Genau deswegen seid ihr auch meine Spezialeinheit. (hält kurz inne und fixiert den ISHEYKI-AGENTEN) Bitte sag mir nicht, dass das ein Inside-Job war … Ich brauch jetzt wirklich keinen nationalbolschewistischen JFK-Moment – Also, bitte sag mir, dass das keiner von unseren Jungs war …

ISHEYKI-AGENT: Ich kann Ihnen versichern, Kommandant, dass wir nicht involviert waren. Wir haben keine abtrünningen Agenten, (zu sich selbst) um die haben wir uns bereits gekümmert, (wieder lauter) und keiner unserer Leute hat auf eigene Faust gehandelt.

PRIZRAK: (faltet die Hände zum Gebet zusammen und schaut nach oben) Den Allmächtigen sei Dank! Es ist kein beschissener interner Vorfall! Oh, das wäre ein bürokratischer Alptraum gewesen. Das erspart mir so viel Arbeit! Ich danke dem Herrn aus dem Tiefsten meines verdorbenen Herzens! (hält inne, schaut zum ISHEYKI-AGENTEN) Stecken die Juden dahinter?

ISHEYKI-AGENT: (verwirrt) … Nein?

PRIZRAK: Schade, das hätte die Sache wesentlich leichter gemacht. Ich bin fest davon ausgegangen, dass die jüdischen Zionisten dahinter stecken … oder der Mossad – was tautologisch ist, wie ich gerade feststelle.

ISHEYKI-AGENT: Also wir sind uns zu neunundneunzig Prozent sicher, dass weder jüdische Organisationen noch feindliche Geheimdienste dahinterstecken.

PRIZRAK: Keine feindlichen Geheimdienste? Man kann es nicht einmal auf die Ausländer schieben? Weder die Israelis noch die Russen noch die Amerikaner noch die verweichlichten Europäer?

ISHEYKI-AGENT: (verlegen) Genau genommen, konnten wir seit Beginn der Revolution keinerlei ausländische Geheimdienstaktivitäten feststellen …

PRIZRAK: (verwirrt) Keine? Nicht mal irgendwelche subversiven Aktionen?

ISHEYKI-AGENT: Keine, nichts, null.

PRIZRAK: Was ist mit diesen Schwuchtel-NGOs?

ISHEYKI-AGENT: Sobald unsere Revolution siegreich war, flohen sie aus dem Land … Also die drei, die hier waren …

PRIZRAK: Und was ist mit den Botschaften? Die versuchen doch bestimmt, unsere revolutionären Bestrebungen zu unterlaufen, nicht wahr?

ISHEYKI-AGENT: Wir haben seit 1991 keine Botschafter mehr im Land gehabt …

PRIZRAK: Keine?

ISHEYKI-AGENT: Keinen einzigen. Und wenn wir schon dabei sind …

PRIZRAK: (beinahe verzweifelt) Was denn noch?

ISHEYKI-AGENT: Wir haben uns die Mühe gemacht, das Internet und die westlichen Medien zu durchforsten und …

PRIZRAK: Und was?

ISHEYKI-AGENT: (sehr verlegen) Nun …

PRIZRAK: Was denn? Was denn nun? Spann mich nicht so auf die Folter!

ISHEYKI-AGENT:   Nun,   Kommandant,   es   sieht   so   aus,   als   …   gäbe   es   keinerlei

Berichterstattungen über unsere glorreiche Revolution. Nicht mal eine Randnotiz. Es ist, als wäre überhaupt nichts passiert.

(PRIZRAK lässt sich geschlagen auf seinen Stuhl fallen.)

PRIZRAK: Oh … Mich beschleicht die Befürchtung, dass der Westen …

ISHEYKI-AGENT: … sich gar nicht für uns interessiert. Die meisten können unser Land wahrscheinlich nicht mal auf der Landkarte finden.

PRIZRAK: Ich bin mir sicher, dass das Volk das auch nicht kann. Dennoch ein … sehr beschämendes Gefühl. (schaut verloren zur Wand) All die Jahre habe ich gegen den westlichen Einfluss gewettert, hab gewarnt und getobt, nur um dann herauszufinden, dass sich keine Drecksau uns auch nur mit dem Arsch anguckt. Wie beschämend, wie überaus beschämend … Wo soll ich denn nun meine Sündenböcke herbekommen?

ISHEYKI-AGENT: Das muss ja niemand wissen. Man kann ja immer noch behaupten, dass es einen subversiven westlichen Einfluss gibt und dass die ausländischen Geheimdienste hinter jeder Farbenrevolution und hinter jeder liberalen NGO stecken.

PRIZRAK: (winkt ab) Ach, das ist nicht das gleiche … Es macht keinen Spaß gegen Phantome zu kämpfen … diese verkackten Westler, dumme Hurensöhne, wie können die es wagen, uns mit Desinteresse zu bestrafen … (schaut wieder zum ISHEYKI-AGENTEN) Wie dem auch sei, eigentlich sprachen wir über das Attentat.

ISHEYKI-AGENT: Taten wir? (erinnert sich) Ach ja! Ja, natürlich! Wir haben da neue

Erkenntnisse!

PRIZRAK: (erschöpft) Das sagtest du bereits.

ISHEYKI-AGENT: Richtig, richtig. Wir haben Informationen darüber, dass …

(Das Telefon klingt.)

PRIZRAK: So eine Scheiße, wer will denn da was von mir? Kann man hier in diesem gottverdammten Rattenloch nicht mal eine Minute ein normales Gespräch führen? (knurrt) Irgendwann fackel ich den ganzen Laden ab, ich schwöre. Ich werde jeden einzelnen hier ans Kreuz nageln. Ich werde jede Mutter ficken, die mir unter die Augen kommt. Irgendwann verlier ich mich.

(PRIZRAK hebt ab.)

PRIZRAK: (überaus genervt) Sieg Heil, PRIZRAK am Apparat … Hmh … Hmh … Ja? Ach, ist das so? Interessant … Was? Sag bloß … Das wird ja immer … Ja? Natürlich. Wir kümmern uns darum. Schickt jemanden hin … Soll sich dieser … Wie hieß er noch gleich? Der örtliche … Wie? Fahnenflucht? Ja, dann findet ihn, verdammte Scheiße! Und dann erschießt ihn und befördert seinen Untergebenen! Meine Güte, machen wir das hier zum ersten Mal, oder was? Ich will Ergebnisse sehen! Und zwar noch heute! Beschissener Judenficker! Negerliebhaber! Mulattenkind!

(PRIZRAK knallt den Hörer auf die Gabel.)

PRIZRAK: Kann dieser Tag noch besser werden? Manchmal hasse ich mein Leben, ganz ehrlich. Wäre ich doch nur Handwerker geworden, wie es mein alter Herr so unbedingt wollte…

ISHEYKI-AGENT: Unerfreuliche Neuigkeiten?

PRIZRAK: (wütend) Das kannst du aber laut sagen!

ISHEYKI-AGENT: Was ist denn passiert?

PRIZRAK: SERP und dieser schwule Dichter wurden tot aufgefunden! Wahrscheinlich Mord.

ISHEYKI-AGENT: Gar nicht gut …

PRIZRAK: Überhaupt nicht. Ganz beschissen ist das! Erst wird GROM durch eine Autobombe in tausend Teile zerfetzt, dann wird SERP erschossen und PERO fällt vom Balkon. Und jetzt können wir auch noch herausfinden, wer dafür verantwortlich ist. Der frühe Feierabend verabschiedet sich gerade ins Nichts. Ich frag nochmal: Kann dieser Tag noch besser werden?

ISHEYKI-AGENT: (tritt verlegen auf der Stelle) Vielleicht kann ich Ihnen noch eine positive Nachricht an diesem düsteren Tag geben, Herr Kommandant.

PRIZRAK: Ach ja, stimmt. Du wolltest mir schon die ganze Zeit irgendwas mitteilen. Und ständig sind wir vom Weg abgekommen. Wenn wir hier fertig sind, brauch ich erstmal was zum Saufen. Eine kühle Flasche Wodka, zum Beispiel. Oder zwei … Vielleicht auch drei. Ach, was solls … Wollte eh morgen freinehmen, dann kann ich auch den ganzen Kasten heute Nacht trinken.

ISHEYKI-AGENT: Kommandant?

PRIZRAK: (genervt) Was denn? Siehst du nicht, dass ich mich auf mein tägliches Saufgelage freue?

ISHEYKI-AGENT: (räuspert sich) Die Sache …

PRIZRAK: Nun sag schon und verschwende nicht weiter meine Zeit!

ISHEYKI-AGENT: Wir haben einen Republikaner gefangen genommen, der wahrscheinlich für das Attentat verantwortlich ist …

(Als PRIZRAK das hört, springt er sofort auf. Ein Glänzen ist in seinen Augen zu sehen. Seine schlechte Laune ist wie weggeblasen.)

PRIZRAK: (freudig) Warum sagst du das nicht gleich, du Sackgesicht?

ISHEYKI-AGENT: Ich hab es ja versucht …

PRIZRAK: Oh, das ist eine wirklich gute Nachricht. (tanzt umher) Das lässt mein Herz höher schlagen – die Tristesse wurde durchbrochen!

(Plötzlich geht die Tür auf und ein ZWEITER ISHEYKI-AGENT erscheint.)

ZWEITER ISHEYKI-AGENT: Kommandant! Wir müssen reden! Es …

PRIZRAK: (unterbricht ihn) Keine Zeit, keine Zeit. Wir müssen sofort in den Keller! (wendet sich an den ERSTEN ISHEYKI-AGENTEN) Ist der Gefangene bereits unten?

ERSTER ISHEYKI-AGENT: Jawohl, Kommandant. Wir haben bereits alles vorbereitet. Das Grammofon steht ebenfalls schon unten.

PRIZRAK: Herrlich, herrlich. Ach, Jungs – ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich doch gerade freue. (wendet sich an den ZWEITEN ISHEYKI-AGENTEN) Sag alle meine Termine sofort ab. Ich muss mich um etwas äußerst Dringendes kümmern. Ich werde wahrscheinlich für die nächsten Stunden nicht erreichbar sein.

ZWEITER ISHEYKI-AGENT: Aber Kommandant, was ist mit der …!

(PRIZRAK und der ERSTE ISHEYKI-AGENT verschwinden durch die Tür, zurück bleibt der fassungslose ZWEITE ISHEYKI-AGENT.)

ZWEITER ISHEYKI-AGENT: … Invasion.

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