Tollwut der Neuzeit

Wirkliche Kreativität bedeutet, das Richtige zu tun und hernach auf die tropische Energie der Seienden zu vertrauen – es kann nicht ausbleiben, dass es sich dann mit ihnen in unvorhersagbarer Weise wendet.

Die letzten ungefähr fünfzig Jahre haben den abendländischen Kontinenten ein machtvolles Wuchern der Metaphysik gebracht, das Erzählungen von Aufklärung und Säkularisierung, Entzauberung der Welt und Ende der Geschichte schwerlich eingeplant hatten. Poststrukturalismus, sozialer Konstruktionismus, das Woke und dergleichen mehr halten sich freilich nicht selbst für metaphysisch, die Vernunft aber umso mehr. Die Vernunft ist ihnen ein System der Unterdrückung, Wesen und Zweck der Vernunft aber – die Progression der Freiheit – sehen sie als die Sache, für die sie kämpfen.

Diese Konfusion zu kritisieren, ist so leicht wie nutzlos. Die Vulgarisierungen elaborierter Theorien werden natürlich nicht bald intelligent, elegant und widerspruchsfrei sein, zugleich stützen sie sich auf Machtapparate, Institutionen, Gruppendynamiken, die auch einfache und gutmütig vorgetragene Argumente mühelos fortschwemmen. Der gewisse Leerlauf einer solchen Kritik hätte auch mit der Schwierigkeit zu tun, einen trifftigen Standpunkt zu gewinnen, wenn wir einerseits nicht die Vernunft restaurieren wollen und andererseits wissen, dass keine Menge aposteriorischer Evidenzen etwas besagt gegenüber einem freien Traumwandel im Apriorischen.

„Kritik“ heißt ja auch üblicherweise eine Tätigkeit der Vernunft, und insoweit diese ewig und allgemein ist, kann sich ohne weiters später ein anderer darum kümmern. Spüren wir lieber dem heute Gegebenen nach und wie es sich mit ihm gewendet hat und noch wenden könnte; was man – im Unterschied zur Kritik, die einer Sache nie begegnen kann, weil sie stets bereits zu ihrem Ziel vorausgelaufen ist – eine Tropographie nennen mag. (Nach Pape (Handwörterbuch der griechischen Sprache) bedeutet tropos zunächst „Wendung“, sodann „gew. Art u. Weise, Gebrauch, Sitte, Landesart, und vom einzelnen Menschen, Lebens-, Sinnesart, Charakter, eigtl. die ganze Art, wie Einer sich zu wenden od. zu betragen pflegt“.)

Der amorphe Fiktionalismus unserer Zeit hat sich „Jacques Derrida“ als metaphysischen Anker erkoren. Welche Beruhigung geht nicht davon aus, einen gültigen philosophischen Gewährsmann zu haben, der die letzten Horizonte jeder Problemstellung sichert. Die Dekonstruktion ist zunächst ein seinsgeschichtlicher Prozess, der sich als Lesepraxis manifestiert, welche die als hierarchischen Gegensatzpaare gedachten Begriffe der europäischen Philosophie, so Wort/Schrift oder Anwesenheit/Abwesenheit „umkehren“ und das „Gesamtsystem verschieben“ will, dabei bloße Neutralisierungen ablehnt. (Jacques Derrida, Signature événement contexte. In: Marges. De la philosophie. Paris: Minuit 1972, 365-393, hier 392.)

Anscheinend muss man das. Von daher versteht sich sogenannte „Subversion“, die in unseren „Kulturwissenschaften“ als selbstverständliche Aufgabe dasteht, die dementsprechend niemals begründet wird. Das kommt schon allein darum nicht in Frage, weil wir Begründen herkömmlich als Aufgabe der Vernunft betrachten, die ja nun gerade der gewalttätige Feind ist. In einem solchen Milieu muss man sich fühlen wie Noam Chomsky nach seiner bekannten Debatte mit Foucault 1971 im holländischen Fernsehen: „Ich sprach von Gerechtigkeit, er sprach von Macht.“ (Didier Eribon, Michel Foucault. Paris: Flammarion 2011 [1989], 389)

Jedenfalls ist die Dekonstruktion vom Eremitismus höchster Lektüren recht bald in das muffige Erdgeschoss des Elfenbeinturms geraten. Dort ist sie mit Schlagwörtern wie „Essentialismus“ und nachmals „Anthropozentrismus“ zum Kampfmittel des dissolutiven Neoprogressivismus geworden. Eine noch zurückhaltende Formulierung ist die folgende: „Wenn es uns (oder jedenfalls manchen oder vielen von uns) heute selbstverständlich erscheint, dass sexuelle Identität sich nicht aus irgendeinem vorgegebenen ,Wesenʻ der Frau oder des Mannes ergibt oder dass kulturelle Identität nicht in der natürlichen Substanz des Blutes oder des Volksgeistes wurzelt, sondern dass diese und andere Identitäten, sofern sie sich überhaupt stabilisieren lassen, von den sie konstituierenden Differenzen unweigerlich bewohnt und insofern in sich gespalten, nicht-identisch bleiben, so verdankt sich das nicht zuletzt dem Prozess der Umwertung, der sich im Denken des 20. Jahrhunderts vollzogen hat.“ (Susanne Lüdemann, Jacques Derrida zur Einführung. Hamburg: Junius 2013 [2011], 48.)

Was man hier sieht, ist die Unterschiebung einer als metaphysisch unterstellten Semantik von „Wesen“ und „Substanz“ für durchaus aposteriorische Tatsachen, Dinge, die gegeben und nicht vorgegeben sind. Die Biologie der Geschlechter stammt aus der Evolution, nicht aus der Ewigkeit. Kulturellen Ausdruck an Blut zu binden, stammt aus dem Rassendenken der atlantischen Kolonialmächte und dem Materialismus des späteren 19. Jahrhunderts – Herder oder Humboldt hätten es merkwürdig gefunden. Die Geschlechter so gut wie die Völker können auch untergehen.

Tropographisch gesprochen hat sich die Dekonstruktion so zu einem „umgedrehten Platonismus“ (Vgl. Friedrich Nietzsche: „Meine Philosophie umgedrehter Platonismus : je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“ KSA Bd. 7, 7[156], 199.) gewendet, der wahres Sein – jene essentia des Essentialismus – nur dem Unveränderlichen zubilligt und es darum allem Geschichtlichen verwehrt. Nur so erklärt sich die Hartnäckigkeit bis zur Selbstverständlichkeit der Leugnung des Offensichtlichen, des Erlebten, des Erforschten. Zu zeigen, dass Foucault es besser gewusst hat: er spricht vom Positivismus und Positivitäten; es liegt ihm fern, die pouvoir dʼaffirmation der Diskurse zu verleugnen (Michel Foucault, Lʼordre du discours. Paris: Gallimard 1971, 71f.) (während die Heutigen glauben, durch „Diskursanalyse“ irgendwelcherlei Dinge zu „dekonstruieren“).

Was bis heute als „Kritik“ oder „Dekonstruktion“ des neuzeitlichen (sc. cartesianischen) Subjekts ausgegeben wird, verleiht dem Subjekt Mächte, von welchen die Philosophie des 17. bis 19. Jahrhunderts nur hätte träumen können – bin ich doch jetzt alles, was ich mir vorstelle zu sein. Und so im Namen der „Freiheit“, welche weder an sich selbst noch an irgendeiner Realität als begrenzt gedacht wird. Das ist die metaphysische Symptomatik der Gegenwart.

Unsere wirkliche Auferstehung wäre es, die Schrift als bejahende Kraft zurückzugewinnen. Das verallgemeinerbare Merkmal der écriture ist für Derrida, dass sie Abdrücke (marques) hinterlässt, die man wiederholen kann und wiederholen muss, um sich mitzuteilen. Diese Wiederholbarkeit heißt itérabilité.(Derrida, Signature 375.) Das trifft in der Tat zuerst das Subjekt als Sprecher: seine Stimme, seine Gegenwart, seine Intention hören auf, Ursprung der Äußerung zu sein. Mit diesem Hebel wendet sich das always historicize zum anything goes. Und bald sitzen wir da mit einem Haufen Post- und Trans- und Nicht-, eine Schatztruhe voll unsichtbarer Edelsteine.

Wirkliche Kreativität bedeutet, das Richtige zu tun und hernach auf die tropische Energie der Seienden zu vertrauen – es kann nicht ausbleiben, dass es sich dann mit ihnen in unvorhersagbarer Weise wendet. Für jenes Richtige aber verlassen wir uns auf ererbte Gefühle, ererbte Muster, ererbte Vorbilder, und höchstens die Resultate können „neu“ sein, nimmer der Ausgangspunkt. Iterative Kraft macht Kultur aus und kann diese – vorzugsweise durch Kunst – in eine neue Wendung treten lassen. Überwunden werden dissolutiver Neoprogressivismus und polyvalenter Revoltismus. Aufscheinen wird das bindende Licht der Metapher.

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