Unsere Bekanntschaft mit Hofmannsthals Ein Brief, dem „Chandos-Brief“, könnte trügerisch sein. Die „Sprachkrise“ des englischen Lords musste für zahlreiche poetologische Bedürfnisse des 20. Jahrhunderts einstehen, obwohl sie genau besehen aus einem einzigen Problem besteht, nämlich die Worte für sozial fixierte Werturteile weiter zu benutzen. Typischerweise bestimmen ethische Fragestellungen Hofmannsthals Werke.
Es wird eine wichtige persönliche Erfahrung sein, den ungebrochenen Zusammenhang zur überlieferten Kultur, zur angeborenen Welt zu verlieren. Für das längst geschichtsbewusste, europäische Denken müsste es allerdings keine Revolution darstellen. In seiner Bildungsbeflissenheit und großen Blüte der historischen Geisteswissenschaft war ihm jedoch, im Laufe des 19. Jahrhunderts, das Bedürfnis nach absoluter Bindung verlorengegangen. Nietzsches Leipziger Lehrer Friedrich Ritschl schrieb als Antwort auf die Geburt der Tragödie: „Meiner ganzen Natur nach gehöre ich der historischen Richtung und historischen Betrachtung der menschlichen Dinge so entschieden an, daß mir nie die Erlösung der Welt in einem oder dem andern philosophischen System gefunden zu sein schien, so wenig wie eine Religion für die verschiedenen Völkerindividualitäten ausreicht, ausgereicht hat und je ausreichen wird.“ Die später so genannte „Krisis des Historismus“ hebt an. Dieses Bewusstsein wird jenem Bedürfnis stets seine schroffe Ablehnung vorauswerfen. Gott ist tot.
Doch niemals sollten sich die stärkeren Seelen und hungrigeren Organismen in Ritschls wissenschaftliche Objektivität finden. So spannt sich die Moderne zwischen Extremen der Kraft, die Sinn und Bedeutung nicht mehr benötigt, und der Verlassenheit, von dem Verlust tief betroffen.
Aber diese Epoche weist auch Spuren anderer Bindung auf. In seiner „Sprachkrise“ erlangt Chandos eine mystische Beziehung zu unbelebten Gegenständen, die jetzt Leben haben und von denen eine „Gegenwart der Liebe“ ausstrahlen kann. „Eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen.“
Seit Aristoteles, De Interpretatione, steht es fest, dass Sprechen eine menschliche Tätigkeit, menschlicher Ausdruck ist. Dem wollte, eine gewisse Weile nach dem Chandos-Brief, Martin Heidegger eine andere Wendung geben. Die Sprache spricht, meint er. Die Menschen ent-sprechen ihr. Das schaffen sie, indem sie auf die Sprache als Voraussetzung ihres eigenen Sprechens gehört haben. Es ist das Hören, das mit dem eigenen Sagen an sich hält. Stattdessen sprechen die stummen Dinge. Wenn aber nicht nur die Menschen sprechen, sondern zuerst die Sprache spricht, so wird dieses Sprechen an den Dingen manifest, wenn sie Welt geben, anwesend sind, Welt sich in ihnen ereignet.
Diese Sprache stillt – um wieder von Heidegger zu borgen, aber man sieht die eigentümliche Korrespondenz im Chandos-Brief: „Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoß des Friedens.“ Dorthin führt der mystische Weg, ab von der Konventional-Sprache. Das Überfließen und das Fieber ist es aber nicht, worin jene stillende Sprache besteht, sondern eher das so friedvolle Resultat. Chandos lässt ahnen, dass ihm diese Sprache zugänglich ist, aber da sie keine menschliche ist, sich nicht für Bücher eignet.
Erhalten bleibt die Sprache, als die Sprache, die spricht. Zerschlagen wird eine menschliche Machtsprache, die Sprache des Verfügens durch Worte; das schließt die Ethik mit ein. Diese stille Welt birgt allerlei, und es ist nicht sicher, dass sie den Menschen die Grenzen und Begrenztheit gewährt, die ihnen angenehm sind. Doch es bietet sich in der Sprache ein haltender Bezug, der unsere etwaigen „Zukunftsängste“ zu technischen Problemen relegiert und uns erinnert, dass alles seine Zeit hat.
Hofmannsthal und Heidegger bringt man selten zusammen, vielleicht zurecht. Doch zumindest verbindet sie ein gemeinsamer Vorfahr: Novalis – „Wie, wenn ich aber reden müsste? und dieser Sprachtrieb zu sprechen das Kennzeichen der Eingebung der Sprache, der Wirksamkeit der Sprache in mir wäre?“