Das Neue Fleisch
Das menschliche Gehirn und die Künstliche Intelligenz funktionieren algorithmisch.
Die Künstlichkeit der KI bezeichnet ihren Entstehungsprozess und nicht ihren Seinszustand.
Der Mensch ist eine fleischbasierte Intelligenz.
In dem Maß, in dem die KI den Menschen als dominante Intelligenz verdrängt, verliert er sein angestammtes Habitat. Er wird auf das reduziert, was die KI noch nicht reproduziert: sein Fleisch.
Im Feld der Kunst etabliert sich die KI als produktive Intelligenz. Der Mensch reagiert mit einem Rückzug ins Physische (der Kunst):
Einer neue Welle der Aktionskunst. Ihr Medium ist nicht das alte, erotische Fleisch, sondern das neue. Das Neue Fleisch vermittelt Schmerz statt Lust. Es entzieht sich Simulation und Reproduktion effektiver als sein Vorgänger.
Den Begriff des Neuen Fleisches entnehme ich Cronenbergs Videodrome, einem Film über den Sog, der einen Pornoproduzenten in die Erfahrungswelten des Snuff zieht. Diese Welten offenbaren ihm eine neue Seinsweise und damit einen neuen Körper. Das „Neue Fleisch“ bezeichnet den Körper als Sensationsmedium der Schmerzen. Der Schmerz ersetzt die Lust als privilegierte Sensation.
Schopenhauer beschreibt seine wahrnehmungsökonomische Dominanz. Schmerz wird positiv wahrgenommen, während die Lust im Hintergrund des Seins verschwindet. Das Dasein ist also sensibler für Mangel als für Erfüllung. Der große Makel an Videodrome ist, dass seine Snuff-Szenen fake sind und ihr Sog für den Zuschauer unverständlich bleibt. Demgegenüber sind seine Sexszenen, obgleich ebenfalls fake, befriedigender.
Der neue Moralismus
Das Neue Fleisch geht mit einem neuen Moralismus einher. Er zeigt sich auch in der Literatur. Zwei Trends sind hier paradigmatisch: Sensibilitätslektoren und Smut. Einerseits wird Literatur auf ihr Retraumatisierungspotential geprüft. Andererseits wird, nach Ausstellung der entsprechenden Triggerwarnung, sexuelle Gewalt gegen Frauen pornografisiert.
Dasselbe Muster zeigt sich im Film. Moralische Empfindlichkeit und sadistische Gewalt existieren parallel. El-Tetawy wird für die Darstellung eines Hakenkreuzes verhaftet und Netflix richtet eine True-Crime-Rubrik ein. Das kulturindustrielle Machwerk Monster: The Ed Gein Story zeigt eine Re-Inszenierung der Duschszene Hitchcocks. Eine nackte Frau wird erstochen. Das Messer dringt überall zwischen Nippeln und Vagina ein. Wenn es herausgezogen wird spritzt Blut und die Frau krümmt sich nach vorne, gegen die Klinge. Ihr Körper suggeriert einen Lustgewinn. Der Killer masturbiert zu Holocaustbildern d.h. zu Snuff. So wird sein Mord auch auf einer narrativen Ebene sexualisiert. Der Mainstream ist das neueste Terrain des Gewaltpornos.
Psychoanalytisch lässt sich dieses Muster als Verschiebung erklären. Freud beschreibt die Zwangsneurose als Verdrängung sadistischer Impulse durch Reaktionsbildung. Gewissenhaftigkeit ersetzt das Verbotene und das Verdrängte kehrt in anderer Form zurück.
Der von-Gönitzer-Test
Eines Tages wird die KI auch jene feineren Nervenenden des Neuen Fleisches zu verwirren wissen. In diesem Moment überschreitet sie eine Schwelle zur Menschwerdung, die weniger arbiträr ist, als jene, die durch den Turing-Test markiert wird.
Ich formuliere diesbezüglich den von-Gönitzer-Test. Er ist bestanden, wenn ein KI-Snuff-Film nicht mehr von einem Menschen-Snuff-Film unterschieden werden kann. Die KI darf dabei auf kein vorhandenes Material zurückgreifen. (Kollage ist) Montage ist Lüge, sagte Godard.