Der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer legte mit „Was ist deutsch?“ die vielleicht umfangreichste Vermessung des deutschen Geistes vor, die als Standardwerk für alle gilt, die sich geistesgeschichtlich auf die Worte „deutsch“ und „Deutschland“ berufen. Die vielleicht einzige Schwäche des 1056 Seiten starken Werkes ist die Zugänglichkeit, die bei der akademischen Sprache nicht jedem gegeben ist. Einen anderen Ansatz wählt der YouTuber PHRASENDRESCHER, studierter Philosoph, Geschichts- und Politikwissenschaftler, mit seinem in die Breite gehenden Werk „Deutschsein für Fortgeschrittene“, eines der Bücher zu dem Thema, das das meiste Potenzial besitzt, in der politischen Breite wahrgenommen zu werden, denn die Umfragen und Wahlergebnisse zeigen: Deutschsein oder die Berufung auf eine Idee vom Deutschen stehen hoch im Kurs.
Bevor der PHRASENDRESCHER auf die deutsche Geschichte blickt, charakterisiert er, nicht ohne Ironie, acht verschiedene Typen, die sich im politischen Umgang mit unserem Land und im banalen Alltag finden lassen. Darunter der Weltbürger, der im Ausland in einem überteuerten Hotelzimmer – wahrscheinlich auf Firmenkosten oder denen einer NGO – nächtigt und dabei das Land und die einheimische Kultur gar nicht richtig kennenlernt, denn er lebt im Transitbereich, das formell zu einem anderen Staat gehört, aber dennoch nach gleichen und eigenen Regeln spielt. Echte Kultur, die aus der Geschichte stammt und mehr ist als eine konsumierte Lifestylefrage, findet sich in ihr nicht. Sein kleiner Bruder, stellt der Autor richtig fest, ist der EU-Patriot, der trotz des Brexit – und der Renationalisierung der Insel, Nigel Farage und seine Reform-UK-Partei lassen grüßen – Englisch spricht, das trotz der Größe Deutschlands oder Frankreichs Geschäftssprache in den europäischen Institutionen ist.
Die Bundesrepublik wird vom Alman bevölkert. Natürlich tut er sich schwer mit der Nation, dafür „weicht er jeder Konfrontation aus, lebt keine starken Werte und sucht sich Hilfe bei den Strukturen des Staates, der Schule, der Arbeit oder im schlimmsten Fall bei seinem Rechtsanwalt,“ den er vom gemeinsamen Grillabenden am Weber-Grill – in Jack-Wolfskin-Partnerjacke – mit einer Flasche Radler in der Hand kennt. Weil sie eben Deutsche sind, müssen sie mit ihrer Identität leben. Das gelingt den Erwachsenen ironisch – oder schlimmer Schülern, als Art deutsches Weißbrot, das sich mit Louis-Vuitton-Gürtel und Gucci-Schuhen der Talahon-Bande auf dem Schulhof anschließt und natürlich gegenüber anderen identitätsstarken Gruppen nicht ernst genommen wird.
Wer die Flucht in die identitätspolitische Ironie antritt, landet im Klischee, wenn nicht gar in der Farce, und diese Bilder sind entsprechend ihrer Wirkung von der Realität eingeholt worden. Wer hätte gedacht, dass der Typus des ACAB-Marxisten, den der PHRASENDRESCHER charakterisiert, von der Grünen-Jugend-Sprecherin Jette Nietzard als prominentes Beispiel eingeholt wird, als sie mit dem „ACAB-Pullover“ den Deutschen Bundestag betrat und sich auf Instagram inszenierte? Wahrscheinlich nicht einmal der Autor selbst oder der sonst unterhaltsam zynische WELT-Kolumnist Hendryk M. Broder!
Trotz der unterhaltsamen Nabelschau, die sonst keiner ausspricht, aber sieht, ist der eigentliche Kern des Buches ein Brevier zur Ich-Stärkung und Abgrenzung zu den Typen, die aufhalten und bremsen.Im Zusatz „Der Deutsche“, stellt der PHRASENDRESCHER zum Deutschen explizit heraus: „Vielmehr will er nicht nur Probleme sehen, sondern als Teil der Lösung im Großen wie im Kleinen daran arbeiten, das Bild von Deutschland innen wie außen positiv zu beeinflussen.“ Dieser Schlüsselsatz beschreibt den Kern, mit dem der Autor anschließend die deutsche Geschichte durchschreitet und in prägenden Kapiteln die Geschichte, die Sprache und den Nationalsozialismus aufarbeitet. Im Kapitel zur NS-Zeit steht ein Zitat von Carl Goerdeler, dem Reichskanzler, wenn das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 erfolgreich gewesen wäre, vor und der PHRASENDRESCHER würdigt auf besondere Art die Widerstandsgruppen um Stauffenberg und die Weiße Rose, die mit ihrer Haltung mehr dem titelgebenden Deutschsein entsprechen als die herrschende NSDAP mit ihren Fremdbedienungen national und sozialistisch. „Ironischerweise sieht sich der Sozialismus, obwohl auch er namentlich vereinnahmt wurde, kaum dem Vorwurf ausgesetzt, in Verbindung zu nationalsozialistischem Gedankengut zu stehen“, bemerkt der Autor treffend. Einer der Punkte, die im Zusammenhang zwischen der Weißen Rose und Claus Schenk Graf von Stauffenberg zu ergänzen ist, ist der Bezug zum Dichterkreis um Stefan George. Während Stauffenberg im Kreis verhaftet war, wie der PHRASENDRESCHER richtig erwähnt, standen in Hans Scholls Bibliothek sechs Bände von Stefan George, mit Anmerkungen und Unterstreichungen, wie Achim Aurnhammer in seinem Werk Stefan George in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts mit Verweis auf Roberts Zoskes Flamme sein! herausstellt.
Der PHRASENDRESCHER nutzt auf vielen Ebenen Bezüge zur deutschen Geschichte, um eine alternative Haltung anzubieten, die mehr ist als ein Klischee oder die radikale Abkehr von der Heimat, die trotz ihrer Unterschiede, von der lokalen Mundart bis zu unterschiedlichen Speisen, in ihrem Land aufgeht. Hoch anzurechnen sind ihm die Bemerkungen und Gedanken zu den deutschen Denkmälern, die in regelmäßigen Abständen verunstaltet werden und deren Präsenz im Gewitter von Algorithmen und Bildschirmen verloren geht. Wer Deutschland neu entdecken möchte und andere, gerade junge Menschen, ermutigen will, liest Deutschsein für Fortgeschrittene und denkt mit ihm weiter!
PHRASENDRESCHER: Deutschsein für Fortgeschrittene, 2024 im BLUTDRUCK-Verlag erschienen, zweite Auflage (2025) verfügbar. Taschenbuch, 245 Seiten.