Golgotha

Von Pferdeköpfen gestoßen, von Menschen gedrängt, betäubt von dem Geräusche der Stadt, die mir wie eine riesengroße, teuflisch dahinrasende Fabrik erschien, geblendet vom Glanze der vielen ungewohnten Lichter, ging ich umher wie in einem mir unerklärlichen Wahnsinn.

Seit acht Tagen habe ich keine Nacht geschlafen. Auf meinem Schädel sitzt’s wie ein glühender, eiserner Helm. Mein Blut kocht, es ist, als müssten meine gespannten Adern zerreißen, und ich fühle lodernde Flammen mir im Rücken hinaufschießen. Was noch menschlich an mir war, was der moralische Schmerz unter all‘ der Besudelung noch an Scham, an Gewissensbissen, an Achtung, an unbestimmter Hoffnung gelassen, was mich noch mit der Kategorie der denkenden Wesen verknüpfte, und wäre dieses Band auch noch so schwach gewesen – alles das ist in einem furchtbaren Anfall von tierischem Wahnsinn, von bestialischer Brunst, fortgeschwemmt worden… Ich habe keinen Begriff mehr vom Guten, vom Wahren, vom Gerechten, von den unbeugsamen Gesetzen der Natur. Ich habe kein Gefühl mehr für geschlechtliche Zurückhaltung, die von einem Bereiche zum anderen existiert und die Welt in beständiger Harmonie erhält: Alles bewegt sich mir, alles löst sich mir in eine einzige sterile Geschlechtsverwirrung auf, und im Delirium meiner Sinne träume ich nur von unmöglichen Umarmungen… Nicht allein, dass das Bild von der prostituierten Juliette keine Qual mehr für mich ist, nein, im Gegenteil, es lockt mich … ich suche es auf, ich verweile dabei, ich bestrebe mich es in unauslöschlichen Zügen festzustellen, ich bringe es in Verbindung mit den Dingen, den Tieren, den ungeheuerlichsten Mythen, und von Höllengeißeln gepeitscht führe ich es selber zu verbrecherischen Ausschweifungen… Juliette ist nicht mehr die Einzige, deren Bild mich erregt und verfolgt… Gabrielle, die Rabineau, die Mutter Le Gannec, das Fräulein de Landudec gleiten unaufhörlich, in infamen Stellungen, an mir vorüber… Weder die Tugend, noch die Güte, noch das Unglück, noch das ehrwürdige Alter hindern mich, und als Dekoration für diesen grauenhaften Wahnsinn wählte ich mit Vorliebe die heiligen und geweihten Stellen, die Altäre der Kirchen, die Gräber der Friedhöfe… Ich leide nicht mehr an meiner Seele, ich leide nur an meinem Fleische… Meine Seele starb in dem letzten Kusse, den Juliette mir gab, und ich bin nun nichts als eine Form, eine Form, die aus besudeltem, empfindungsfähigem Fleisch besteht, in welche die Dämonen siedende Ströme hineingießen… Ach! diese Strafe hatte ich nicht ahnen können!

Vor einigen Tagen begegnete ich auf dem Strande einer Muschelfischerin… Sie war schwarz, schmutzig, übelriechend, einem Haufen verfaulenden Tangs vergleichbar. Ich näherte mich ihr… Und jählings floh ich davon, denn mich überfiel die teuflische Versuchung, mich auf diesen Körper zu stürzen und sie zwischen Wasserpfützen und Uferkieseln umzuwerfen… Ich wandere und wandere durch das Land, mit eilenden Schritten, mit aufgeblähten Nasenflügeln, wie ein Jagdhund dem Geruch des Weibchens nachspürend… In einer Nacht, als mir die Kehle brannte, das Hirn von entsetzlichen Visionen gemartert wurde, begab ich mich hinaus in die winkeligen Gassen des Dorfes und klopfte an die Türe einer Matrosen-Dirne… Und ich bin in das Schmutznest hineingetreten… Aber sobald ich auf meiner Haut die Berührung der fremden Haut verspürte, stieß ich ein Wutgeschrei aus … ich wollte fort… Sie hielt mich zurück.

»Lass mich!« schrie ich da.

»Weshalb willst Du gehen?«

»Lass mich!«

»Bleib… Ich will Dich lieben… Ich bin Dir oft nachgegangen, draußen auf der Küste… Oft auch habe ich das Haus umschlichen, in dem Du wohnst … ich habe Lust auf Dich… Bleib‘!«

»Aber so lass mich doch! Siehst Du denn nicht, dass ich Ekel vor Dir habe!«

Und wie sie sich mir an den Hals hing, habe ich sie geschlagen… Sie wimmerte:

»Jesus-Christ! Er ist verrückt!«

Verrückt! … Ja, ich bin verrückt! … Ich habe mich in dem Spiegel gesehen und habe Furcht bei meinem Anblick empfunden. Meine Augen sind groß geworden und blicken verstört aus den eingesunkenen Augenhöhlen hervor; die Backenknochen stehen heraus, und in meiner gelben Haut sind tiefe Löcher; mein Mund ist welk, zitternd und hängend, wie bei Greisen, die ein schlechtes Leben führen… Meine Bewegungen sind zerfahren und wirr, meine Hände, die unaufhörlich von nervösen Zuckungen befallen werden, krallen sich ein, greifen nach Beute im leeren Raum…

Octave Mirbeau – Golgotha – Übersetzt von Therese Krüger – Edition Acephale 2025

Weitere Beiträge

Der Untergang des Abendlandes im Lichte der Disruption der Zeitpräferenz
Nie wieder Deutschland.
Das Endziel unseres Weges ist das Reich Gottes. Was wir aber im Auge haben, um zu diesem Ziel zu gelangen, ist die Reinheit des Herzens, die puritas cordis, ohne die niemand zum Endziel gelangen kann.
Und er, der Gottlose, der nicht einmal die Zerrissenheit in der eigenen Brust heilen kann, soll ihnen Götter geben? Wohl ihnen, dass sie seine Angst nicht kennen.
Mit dem Fehlen der Vernunft als Leitorgan kommt auch die Messbarkeit der Seele abhanden.
“Alles denkt jetzt den Untergang. Wir Deutschen können deshalb nicht untergehen, weil wir noch gar nicht aufgegangen sind und erst durch die Nacht hindurchmüssen.”
Und in diesem Buch standen all die Geschichten, all die Gedichte, all die Lieder ihrer Ahnen. Und das Buch war ihnen das Allerheiligste. Ein heller Stern in finstrer Nacht.
Gebt uns einen Keller, oder zumindest einen schattigen, dunstigen Unterbau! Gebt uns einen Chruschtschowka-Sockel, sonst gehen wir auf die Straßen!

Beiträge anderer Kategorien

Der Gehorsame ist ein Hörender und ein Höriger. Der Letztere gilt dem Modernen noch immer als Affront. Wenn Aufklärung nichts ist als Mündigwerdung, dann ist Hyperaufklärung Hörigwerdung.
Sieben FIUME-Sportereignisse zur Schau und zum Betrieb für junge europäische Männer.
Wer die Flucht in die identitätspolitische Ironie antritt, landet im Klischee, wenn nicht gar in der Farce.
Man brachte Huren nach Eleusis hin Und setzte Leichen zum Gelag Auf Geheiß von Usura.
Die politische Linke hat ihre Kraft, sich nach außen zu behaupten, verloren und besteht aus einer leeren Hülle, die mit Lifestyle-Fragen ihre innere Leere zu kompensieren versucht.
Der Mönch Abbé von La Croix-Jugan versündigte sich, bevor er in den Schoß der Kirche findet, mehrfach an seinem Glauben.
„Schicksal, Fügung, Verhängnis, Tat, Kuss, Rausch, Erfüllung.“ Wer am Zauber der deutschen Sprache zweifelt, sollte jedes dieser Wörter einzeln aussprechen – wie ein Klöppel, der langsam gegen eine große Glocke schwingt.
Lo que quería era no hacer nada, porque todas las actividades a mi disposición como hijo de familia algunas veces acomodada y de unos padres comprensivos y tolerantes, todas las posibles carreras u ocupaciones, me parecían absolutamente fútiles.