Mönch und Mörder

Dreitausend tote Kapuziner. Drama in Prosa.


Dramatis personae: Dreitausend Kapuziner.
Schauplatz: Rom.
Musik: Allerseelen CD Frühgeschichte II. Requiem.

„Der Todesgedanke reinigt wie ein Gärtner, der das Unkraut jätet, wenn er in seinem Garten ist.
Aber dieser Gärtner will immer alleine sein und ärgert sich, wenn Neugierige in seinen Garten schauen.“
(Elisabeth von Österreich)

DIE KUNSTWERKE IN den Kammern des Coemeterium Capucinorum in Rom bestanden ausschließlich aus den Knochen und Schädeln unbekannter Mönche. Unbekannt war auch der Künstler und Kapuziner, der vor Jahrhunderten diesen fast surrealistischen Totengarten verwirklicht hatte. In ihm wuchsen Knochen, keine Pflanzen, in ihm herrschte nur eine Jahreszeit: der Herbst. Angeblich war ein einzelner, aus Frankreich verbannter Kapuziner der Künstler dieses gewaltigen Werkes. Aber es hieß auch, ein zu den Mönchen geflüchteter Mörder habe diese Stätte zur Sühne geschaffen. Der Marquis de Sade, der diesen Friedhof ebenfalls besucht hatte, hielt einen deutschen Priester für den Urheber. Wer immer es war: Der Name des Künstlers war ebenso unbekannt wie der Zeitpunkt seiner Geburt und seines Todes. In Italien hatten ihn die Kapuziner jedenfalls mit offenen Armen aufgenommen. Wie besessen hatte der namenloser Mönch aus den sterblichen Überresten von dreitausend Brüdern in jahrelanger oder gar jahrzehntelanger Arbeit ein künstliches Paradies mit Dornenkronen, Herzen, Kreisen, Kreuzen, Sensen, Sternen, Waagen aus Gebeinen geschaffen, hatte sich gleichsam ein Haus aus den Knochen seiner Brüder gebaut.

DER TOD, DER das Leben umschloß wie eine Schale eine Frucht, war die einzige Gottheit in dieser überirdischen Unterwelt. Hier erschien das Leben als ein Schatten des Todes, erschien ebenso altersschwach wie die sterblichen Besucher, die zunächst heiter, dann aber immer bedrückter durch diese Kammern gingen. Unsterblich aber war der Tod, der hier als Hausherr alle Rechte und alle Schlüssel zu allen Türen besaß. In der Kosmologie der Kapuziner schien der Tod ebenso allmächtig wie Gott. Vielleicht galten sie als heimliche Zwillingsbrüder. Wer weiß, vielleicht waren sie identisch.

ALLES WAR HIER einem kapuzinerbraunen Tod geweiht. Es war mir, als bewegte ich mich auf der Bühne eines Passionsspiels, in dem dreitausend Darsteller nach und nach zugrunde gegangen waren. Ich ging von Totenhaus zu Totenhaus. Seinen Brüdern hatte der unbekannte Kapuziner im Diesseits in der via Veneto ein künstliches Jenseits geschaffen. Hier umgab die müden Knochen nicht dunkle katholische Erde, sondern römische Luft. Vielleicht hatte er bereits in den noch lebenden Mitmönchen die späteren Werkstoffe gesehen, manche Schädel, Schlüsselbeine, Schulterblätter insgeheim bewundert und geistig vorgemerkt, um sie eines Tages in seiner Sammlung zu verewigen. Seine Kunst zeugte von einer überlebensgroßen Hingabe an den Tod, der für diesen namenlosen Mönch offenkundig jeden Schrecken verloren hatte. Der Kapuziner stand über den Dingen, hatte den Schauer, die Angst, die Ehrfurcht überwunden, die den Tod in den Augen der gewöhnlichen Sterblichen umgab wie ein Hofstaat: Der unbekannte Kapuziner nahm ihn nicht mehr ernst, betrachtete ihn als unendliches Spiel, als ewigen Tanz. Und so störte und zerstörte er die Totenruhe seiner Brüder, riß sie aus dem großen Schlaf für ein sichtbares Jenseits aus Menschenhand.

ICH FRAGTE MICH, ob auch der unbekannte Künstler hier ruhte. Aber nach seinem eigenen Ende war wohl niemand dazu fähig, ihn ebenso sorgfältig und gekonnt in ein Kunstwerk zu verwandeln, wie er selbst es jahrzehntelang mit seinen toten Mitmönchen getan hatte. Vielleicht war er tatsächlich ein Mörder gewesen und sollte nicht in diesem Coemeterium Capucinorum verewigt werden? Vielleicht aber hatte er einen Lehrling ausgebildet oder hatte Aufzeichnungen, Skizzen überlassen mit Hinweisen, was mit seiner eigenen sterblichen Hülle geschehen sollte.

VIELLEICHT ABER WOLLTE er, durfte er, konnte er nicht sterben, um auch weiterhin unermüdlich und unbeirrt im Totengarten und in einer Werkstatt an seinem überlebensgroßen Lebenswerk zu arbeiten, wenn die Tür für die Besucher abends endlich ins Schloß fiel. Einige Stellen in diesem vordergründig so vollkommenen Kapuzinerfriedhof wirkten im Grunde noch unfertig, als habe der unbekannte Mönch nur für einige Stunden seinen Arbeitsplatz verlassen. Vielleicht schlief er tagsüber – und lag doch wach, dem Augenblick entgegenfiebernd, wenn er sich wieder ungestört seinen Knochen widmen durfte.

IN DIESER KÜNSTLICHEN Unterwelt gab es keine Uhr, trug niemand eine Uhr, keiner der Toten, und auch ich nicht. Denn die Zeit war für die Toten ebensowenig von Bedeutung wie der Raum. Zeit – sie hatten nie von ihr gehört. Raum – sie hatten ihn nie gesehen. Der Unterschied zwischen Zeit und Raum hatte sich ebenso in Nichts aufgelöst wie der Gegensatz zwischen Leben und Tod. Die Zeit stand still. Und deshalb hatte der Mönch, der möglicherweise ein Mörder war, vertieft in seine Sammlung aus dreitausend Kapuzinern, alles um sich vergessen – auch auf die Zeit. Und auch sie, die ferne, unscheinbare Zeit, hatte ganz auf ihn vergessen. Mir war, als hörte ich in nächster Nähe ein Atmen aus einer angrenzenden Kammer und auch manchmal leise Geräusche hinter den Kulissen, als ordne oder reinige jemand Knochen. Auch ein Herz schlug langsam. Aber es war meines.

IRGENDWO FIEL LEISE eine Tür ins Schloß. War es die Eingangstür zum Coemeterium Capucinorum? Hatte man auf mich vergessen, mich eingesperrt? Vielleicht hatte ich mich zu leise, zu andächtig verhalten, stand zu lange in einem der vielen toten Winkel. Lautlos ging ich zum Ausgang: Die Tür war tatsächlich verschlossen. Sollte ich klopfen, auf mich aufmerksam machen? Ich war nicht beunruhigt, im Gegenteil – als habe ich seit Stunden auf diesen Augenblick gewartet.

IN EINER DER Kammern standen tote Mönche in ihren braunen Kutten mit Kapuzen. Vielleicht aber stellten sie sich nur tot, denn ich bildete mir ein, ganz leise ihre Andachten und Gebete zu hören. Vielleicht aber war ich ebenso tot wie sie, hatte mich im Grunde nur lebend gestellt, um mich unauffällig unter die Lebenden zu mischen? Alle diese Mönche hatten eines Tages die Luft für immer angehalten. Wenn sie im Diesseits ausatmeten, atmeten sie zur gleichen Zeit im spiegelbildlichen Jenseits ein. Nun hielt auch ich die Luft an.

DAS ENDLICHE LEBEN stellte ich mir vor wie ein Stundenglas in der Hand des Todes. Dieses Sinnbild hatte ich manchmal auf Friedhöfen gesehen. Viele Jahre stand dieses Stundenglas senkrecht – bis der Tod es eines Tages bewegte. Dann lag es waagrecht wie die liegende Acht, das Zeichen der Unendlichkeit: Jetzt waren Zeit und Raum zum Stillstand gekommen, und auch das Leben erstarrte – wie ein Standbild in einem deutschen Stummfilm. Immer noch hielt ich den Atem an. Ich begriff, daß ich mich jetzt in diesem liegenden Stundenglas wie in einem Terrarium befand. Nun waren auch für mich Zeit und Raum und alle anderen Gegensatzpaare ohne Bedeutung. Jetzt war ich es, der auf die Zeit vergaß. Und die Zeit: Sie vergaß auf mich.

AN EINEM HAKEN hing eine kapuzinerbraune Kutte. Ob der unbekannte Mönch in wenigen Minuten auftauchen würde? Ich griff nach der Kutte und streifte sie über, setzte die Kapuze auf, verknotete die Kordel. Die Kutte paßte mir ausgezeichnet – als habe man sie für mich geschneidert. Ich entdeckte auch eine kleine Tasche aus braunem Leder. War auch sie für mich bestimmt? Sie enthielt einige kleine Werkzeuge, verschiedene Feilen, eine kleine Säge und einige Schlüssel. Auch eine kleine Sanduhr war dabei, es schien, als sei sie mit Asche gefüllt. Mit traumwandlerischer Sicherheit öffnete ich eine unscheinbare kleine Pforte. Ich stand in einer kleinen Werkstatt. Auf einem Tisch lagen zahllose Knochen in unterschiedlichen Formen und Größen. Ich war alleine und begriff, daß der unbekannte Kapuziner nicht kommen würde. Nun war ich Mönch, vielleicht auch Mörder. Langsam und sorgfältig begann ich mit meiner Arbeit, als hätte ich seit Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten nichts anderes gemacht. Jeder Handgriff saß.

„Zur Zeit, da Christi Saat geblüht, erwählte manch edler Mönch, von dem man heut kaum noch spricht, das Leichenfeld zur Werkstatt und erzählte in Bildern uns vom Tod stark und schlicht.“
(Charles Baudelaire, Der schlechte Mönch. Die Blumen des Bösen)

FINIS

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