Zwei sagenhafte, aus der Unterwelt aufgestiegene Tiere

Das vergessene Rundfunkduell zwischen Dr. Joseph Goebbels und Erwin Piscator vom 21. Oktober 1930

Am 21. Oktober 1930 ereignete sich in einem Studio des Berliner Rundfunks ein seltenes und zugleich denkwürdiges Schauspiel. Zwei Männer trafen aufeinander, die auf den ersten Blick so gar nichts miteinander gemein hatten und wären sie auf eine eventuelle „Wahlverwandtschaft“ angesprochen worden, so würden sie beide eine solche sicherlich  brüsk und weit von sich gewiesen haben. Die Rede ist von Dr. Joseph Goebbels und Erwin Piscator. 

Goebbels, 1897 geboren, aus zutiefst rheinisch-katholischem Milieu stammender Dr. phil., der einst bei Friedrich Gundolf in Heidelberg promovieren wollte, war von dem fanatischen Ehrgeiz besessen, im Leben „eine Rolle zu spielen“. Nachdem der verhinderte Romancier und Autor von Bühnenstücken, welche zumeist sein eigenes Lebensschicksal widerspiegelten, als Literat keinerlei Erfolg hatte, wandte sich der gott- und sinnsuchende, von einem unerfüllt bleibenden Eros vorwärtsgetriebene junge Mann schließlich der Politik zu und fand den Weg zur nationalsozialistischen Bewegung Adolf Hitlers. Zunächst noch schwankend – „Wer ist dieser Mann? Halb Plebejer, halb Gott! Tatsächlich der Christus oder nur der Johannes?“ – wie es in seinem Tagebuch über Hitler hieß, schlug er sich schon bald vollends auf dessen Seite. Innerhalb der Partei gelang es Goebbels als ausgewiesenem Vertreter des linken Flügels der Partei in erstaunlich kurzer Zeit an Rhein und Ruhr eine feste politische Größe zu werden. Bald schon zeigte sich, daß man es bei ihm zudem mit einem begnadeten Redner und genialen Propagandisten zu tun hatte, den Hitler im November 1926 selbst in instinktsicherer Einschätzung der Fähigkeiten dieses „kleinen Doktors“, wie man ihn auch nannte, in die Reichshauptstadt Berlin entsandte mit den Worten „der oder keiner kann es machen, der muß es machen!“. Goebbels sollte die dortigen katastrophalen inneren Verhältnisse der Partei als Gauleiter neu ordnen und die NS-Bewegung zum Erfolg führen. 

Rastlos riss Goebbels die desolate Berliner Gruppe aus armseligsten Anfängen empor, drängte den lustlosen Verein, dessen Geschäftsstelle man bezeichnenderweise auch als „Opiumhöhle“ bezeichnete, an die Öffentlichkeit, hielt Versammlung auf Versammlung in den roten Hochburgen der KPD ab und führte die SA in ungezählte Saalschlachten mit dem politischen Gegner. Goebbels provozierte die Kommunisten mit schreiend roten Plakaten und einer starken Betonung des Begriffes Sozialismus von Tag zu Tag mehr. Binnen weniger Monate wurde die Berliner Partei unter ihrem neuen Gauleiter, der ebenso ein befähigter Journalist war und sich mit seiner Zeitung „Der Angriff“ ein eigenes Sprachrohr schuf, zu einer maßgeblichen Konstante der Berliner Politik. 1928 zog er als Abgeordneter in den Reichstag ein und setzte seine Agitation, nun „immun“ geworden, dortselbst fort. 1930, als die NSDAP zur zweitstärksten Partei im Reich wurde, erhielt Goebbels erneut ein Reichstagsmandat und wurde überdies zum Reichspropagandaleiter seiner Partei ernannt. In dieser Lebensphase befand sich Goebbels zur Zeit seines Zusammentreffens mit Piscator.    

Erwin Piscator, geboren 1893, entstammte einer calvinistischen Kaufmannsfamilie aus Mittelhessen. Einer seiner Vorfahren war ein Bibelübersetzer, der um 1600 seinen Namen „Fischer“ latinisiert hatte. Am ersten Weltkrieg nahm Piscator an den Stellungskämpfen in Flandern teil und wurde dort schwer verwundet. Fortan verfestigte sich seine pazifistische und kommunistische Überzeugung. Nach dem Kriege experimentierte er mit den verschiedensten künstlerischen Stilrichtungen, so auch dem Dadaismus und er schloss sich dem Kreis um George Grosz und John Heartfield an. Das erste „proletarische Theater“ in Berlin geht auf Piscator zurück. Sein Ziel war es, die Arbeiterschaft für die Kunst zu gewinnen, als Mitglied der KPD sah er aber immer mehr die Gefahr, daß seine Arbeiten den Charakter rein parteipolitischer „Auftragskunst“ trugen, was zum Zerwürfnis mit der Partei und seiner allmählichen Abwendung von seinen kommunistischen Idealen führte. Um die Zuschauer zu aktiver Teilnahme am Bühnengeschehen zu animieren, konzipierte er 1927 gemeinsam mit Walter Gropius das ambitionierte Projekt eines „Totaltheaters“, etwa mit seiner Aufhebung der räumlichen Trennung zwischen Schauspielern und Zuschauern. Diese „Piscator-Bühne“, untergebracht in einem 1.100 Plätze fassenden Theater am Berliner Nollendorfplatz, führte zahlreiche Stücke auf, so etwa von dem Revolutionsliteraten Ernst Toller. Piscator war im Jahre 1930 bereits ein einflussreicher Avantgardist, der das Theater mittels raffinierter Bühnentechnik zum „politischen Tribunal“ umfunktioniert hatte. Er verwandte komplexe, hochmoderne Arrangements von filmischen Elementen, Bildprojektionen und Fahrstühlen. Sein „politisches Theater“ in der Weimarer Zeit erzielte äußerst große Resonanz, der sich selbst Bertolt Brecht nicht entziehen konnte. Bald aber geriet Piscator in finanzielle Schwierigkeiten und mußte seine Bühne wegen Zahlungsunfähigkeit schliessen.

Bereits im kurzen Aufriss dieser beiden konträren Biographien zeigt sich eine gewisse Analogie in der Wahl bestimmter dramaturgischer Mittel, denn auch Hitlers und Goebbels‘ politische Kampfmethoden wirkten zuweilen wie Theaterinszenierungen. Ihre Auftritte als Redner, die Propagandaumzüge der SA, mit all ihren Fahnen, Sprechchören und der Uniformierung, sowie einer Wahlpropaganda, die sich damals am anschaulichsten in den aufreizenden Bildplakaten des Zeichners Hans Schweitzer, genannt „Mjölnir“, manifestierte, waren der bewußte Ausdruck theatralischen Wollens und sind daher durchaus auch unter künstlerischen Aspekten zu betrachten, weshalb Hitler selbst verschiedentlich sogar in die Nähe der concept-art gerückt wurde.

In der Reichshauptstadt war all dies vor allem auf Goebbels‘ ausgeprägtem Interesse für das Theater und dramaturgische Fragen zurückzuführen. Bereits 1926 entstanden daher eine „NS-Kampfbühne“ sowie ein „Spiel-Trupp“ der SA. Im folgenden Jahr startete in Berlin eine „NS-Versuchsbühne“, die einige Jahre später unter der maßgeblichen Leitung und Inspiration Robert Rohdes als „NS-Volksbühne“ zu einer stehenden Einrichtung wurde. Rohde geriet allerdings zusehends in das Fadenkreuz der Kritik von Goebbels, da dieser ihm nicht revolutionär genug war. Auf diesen nationalsozialistischen  Bühnen sah man teils von Laien, aber auch von Berufsschauspielern, polemische Auseinandersetzungen mit den brennenden Themen der Zeit sowie den Gegnern der nationalsozialistischen Idee. Auch Goebbels eigene, einst von den Theatern gar nicht erst angenommene Stücke, wie etwa sein „Wanderer“, einer Bühnenfassung seines Romans „Michael“, wurden dort aufgeführt. Dieses Theater habe kein Publikum, hieß es im „Angriff“, sondern eine Gemeinde, es wolle nicht amüsieren, sondern aufrütteln und erheben. In vielfacher Hinsicht nahm man hier – bewusst oder unbewusst – auch Anleihen beim radikalen Agitprop der Piscator-Bühne vor. Aber während Piscator sich trotz seiner bolschewistischen Auffassungen eher an die Vernunft und das kritische Urteilsvermögen des Publikums wandte, zielte die NS-Versuchsbühne doch letztlich eher auf dessen emotionale Überwältigung ab. 

Der zeitliche Zusammenhang des Aufeinandertreffens von Goebbels und Piscator im Herbst des Jahres 1930 fällt in eine Phase heftigster politischer Auseinandersetzungen: Goebbels „Angriff“ kam gerade als Tageszeitung heraus, er selbst hatte etliche Prozesse zu überstehen, unter anderem eine Beleidigungsklage des Reichspräsidenten Hindenburg, in der SA seines Gaues revoltierte der Oberste SA-Führer des Bereiches Ost Walter Stennes und das von NSDAP und DNVP initiierte „Volksbegehren gegen den Youngplan“ scheiterte. In diesen Tagen lernte Goebbels aber auch Magda Quandt kennen, seine spätere Ehefrau.

Der Schriftsteller Arnolt Bronnen, den Goebbels wenig zuvor erst kennen lernte, sollte für Goebbels und Piscator noch von einiger Bedeutung werden. Bronnen, eine äußerst schillernde Figur, der sich einmal politisch nach links, dann wieder zur politischen Rechten hingezogen fühlte, war Anfang der 1920er Jahre durch sein Drama „Vatermord“ bekanntgeworden und vollzog etwa seit 1929 eine Annäherung an die Kreise des „Neuen Nationalismus“, deren Leitfigur Ernst Jünger war. Sein Roman „O. S.“, der die Kämpfe in Oberschlesien schilderte, wurde ein großer Erfolg und faszinierte auch Goebbels. Seit dieser Zeit standen beide in engerem Kontakt. Bronnen und die Schauspielerin Olga Förster, seine spätere Ehefrau, bemühten sich fortan darum, die nationalistischen Intellektuellen zum Nationalsozialismus zu bekehren. Die äußerst exzentrische und offenbar zu sexuellen Ausschweifungen neigende Olga, die auch an der NS-Bühne als Darstellerin wirkte, war damals sowohl die Geliebte Bronnens, wie auch von Goebbels, was der freundschaftlichen Beziehung zwischen dem Gauleiter und dem Literaten aber zunächst keinen Abbruch tat.  

Über sein erstes Zusammentreffen mit dem Nationalisten-Kreis heisst es in Goebbels Tagebuch: „Abends bei Bronnen. Die Literaten sind versammelt. Am besten gefällt mir Bronnen selbst. Er ist klar und nicht so eitel wie die anderen. Am schlimmsten ist das bei Jünger und Schauwecker. Fast unerträglich. Sie können sich nicht einfügen. Trotzdem muß man ihre spitzen Federn gebrauchen. Ich will mit ihnen für die Tageszeitung ein radikales Feuilleton machen…Sonst viele Literaten. Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln„.  Besonders angetan war Goebbels von Bronnens Vorstellung eines groß aufgezogenen politischen Spektakelstücks im Sportpalast, in dem das Publikum mitspielen und ein „Volksgericht“ über „verräterische Volksminister“ abgehalten werden sollte. 

Am Abend nach dieser ersten Begegnung Goebbels‘ mit den Nationalisten verlas Thomas Mann im Berliner Beethovensaal seine „Deutsche Ansprache“, in welcher er vor allem das Anwachsen der NS-Bewegung äußerst kritisch thematisierte und ihr vorwarf, mittels „Budengeläut, Halleluja und derwischmäßigem Wiederholen monotoner Stichworte“ die Politik zum „Massenopiat“ zu degradieren. Mit im Saale: Arnolt Bronnen und etwa 20 SA-Männer, die sich zuvor Eintrittskarten und Leih-Smokings verschafften, um nicht sofort erkannt zu werden und nicht aufzufallen. Auch die Brüder Jünger und Alexander Mitscherlich waren mit von der Partie. Kurz nachdem Mann das Wort ergriff erfolgten von ihrer Seite immer wieder störende Zwischenrufe bis das Eingreifen der Polizei dem Treiben ein Ende setzte. 

Wenig später sollte die Uraufführung der Kinofassung von Erich Maria Remarques pazifistischem Roman „Im Westen nichts Neues“ in Berlin stattfinden. Diese Absicht wollten Goebbels und seine SA mit allen Mitteln verhindern. Auch hier bildeten Bronnen, Goebbels und Olga Förster wieder eine vertraute Troika und Aktionseinheit. Mit Stinkbomben, freigelassenen weissen Mäusen, empörten Zwischenrufen, sowie Einschüchterungen und Beschimpfungen des Kinopublikums wurde beabsichtigt, die Premiere nicht nur zu Fall zu bringen, sondern auch künftige Vorführungen zu verhindern. Und Goebbels Plan ging voll und ganz auf: Die herbeigerufene Polizei ließ zwar den Saal räumen, konnte aber nicht verhindern, daß die Berliner SA ihren Protest auf die Straße verlegte, um so in bewährter Manier des Agitprop auch das Volk für sich und ihr Anliegen zu gewinnen. Die weissen Mäuse übrigens soll Olga Förster höchstpersönlich losgelassen haben. In den nächsten Tagen organisierte die Berliner NSDAP auch weiterhin unentwegt Protestmärsche durch den vornehmen Berliner Westen und lieferte sich Straßenschlachten mit der Polizei. Schließlich trug Goebbels einen Sieg auf der ganzen Linie davon: Die Aufführung des Films wurde am 11. Dezember 1930 mit der Begründung untersagt, daß er „das deutsche Ansehen in der Welt“  gefährde. 

Solcherart war das Zeitkolorit, welches Arnolt Bronnen als Hörspieldramaturg der „Berliner Funkstunde“ vorfand, als er nach dem grandiosen Wahlsieg der NSDAP an die Verwirklichung seiner Idee ging, Links- und Rechts-Intellektuelle zu kulturpolitischen Fragen im Rundfunk debattieren zu lassen. So schlug Bronnen seinem Intendanten Hans Flesch vor, ein Streitgespräch zwischen Dr. Goebbels und Erwin Piscator über die Frage „Nationale oder internationale Kunst“ vor der Hörerschaft des Rundfunks austragen zu lassen. Es scheint, als habe Goebbels sofort begeistert zugestimmt, da er im Rundfunk das modernste und erfolgreichste Massenbeeinflussungsinstrument überhaupt erblickte. 

Die Austragung konträrer politischer Standpunkte war offensichtlich zur damaligen Zeit zu einem regelrechten Trend geworden. Es illustriert aber auch die Diskursoffenheit und Toleranz, die Anfang der 1930er Jahre in Deutschland noch möglich war. Ende 1929 bereits hatte der Jude Leopold Schwarzschild, Herausgeber des liberalen „Tagebuch“, Ernst Jünger aufgefordert seine Gedanken darin zu veröffentlichen, da er unbestritten der „geistige Führer“ des Nationalismus sei. Jünger kam diesem Ansinnen in einem Aufsatz nach, was Klaus Mann zu seinem bekannten Wort über dessen „mißleitete Reinheit“ veranlasste. Schwarzschild wiederum verfasste eine eingehende Replik darauf. Schon vor dem Schlagabtausch Goebbels vs. Piscator waren die Berliner Hörer in den Genuss einiger Rundfunkdiskussionen und Gespräche zwischen Vertretern völlig unterschiedlicher  Meinungen und Weltanschauungen gekommen. Ein Streitgespräch zwischen Alfred Mühr und Ernst Toller hatte bereits Anfang 1930 stattgefunden, was auch Goebbels sehr wohl verfolgte und in seinem Tagebuch kommentierte. Über „Kulturbolschewismus“ diskutierten Alfred Döblin und der Jesuitenpater Friedrich Muckermann im August 1930; über „Nationale Kulturpolitik“ tauschten sich Herbert Ihering, einer der bedeutsamsten Theaterkritiker der Weimarer Zeit und der radikale nationalistische Schriftsteller Franz Schauwecker aus.    

Nun also sollten Goebbels und Piscator „in den Ring“ steigen. Am 21. Oktober 1930 fand die Diskussion unter der Leitung Bronnens statt. Die beiden Kontrahenten, so wird bezeugt, waren sich bei ihrer ersten persönlichen Begegnung noch nicht einmal unsympathisch, wie auch Goebbels seinem Tagebuch anvertraute, in dem er Piscator einen „persönlich angenehmen und sauberen Burschen“ nennt. Auffallend war auch die physiognomische Ähnlichkeit des ehemaligen gläubigen Stipendiaten des katholischen Albertus-Magnus-Vereins und des aus streng calvinistischem Hause stammenden Theatermannes.  

Goebbels kritisierte zu Beginn des Gespräches zunächst den internationalen Kunstbegriff der Kommunisten, welcher die entscheidende Rolle des Volkstums völlig ignoriere und betonte seinerseits die völkische Gebundenheit eines jeden Kunstwerks, worauf Piscator süffisant entgegnete, daß man auch in der Sowjetunion durchaus nicht Esperanto spreche, sondern russisch. Piscator war es dann auch, der das Gespräch vom rein Künstlerischen in politische Gefilde verlegte, indem er Goebbels vorwarf, die NSDAP bekämpfe in ihrer Propaganda zwar das Börsenkapital, halte sich aber dennoch alle Türen zu demselben offen, was den „kleinen Doktor“ wiederum sehr erzürnte. Goebbels verwahrte sich energisch dagegen; er sei und bleibe nationaler Sozialist. Der Marxismus, so wolle er ja gerne zugeben, sei zwar eine Weltanschauung, die sei jedoch auf dem „internationalen Boden des Judentums“ gewachsen. Eine Revolution aber vollziehe sich immer in einem Land, und zwar nach den ihm eigenen völkischen Gesetzen. Nachdem Piscator das Beispiel von Kleists Drama „Die Hermannsschlacht“ angeführt hatte, das in aller Welt aufgeführt werde, ließ Goebbels dies nicht gelten. Kleist sei ein sehr schlechtes Beispiel, so meinte er mürrisch, denn ohne Preussentum hätte es schließlich keinen Kleist und ohne Kleist dann eben auch keine „Hermannsschlacht“ gegeben, weil ein solches Werk eben nur aus preußischem Geiste heraus hätte geschaffen werden können. Auch die „Meistersinger“ würden zwar überall in der Welt aufgeführt, aber nur in Deutschland sei der Deutsche Richard Wagner überhaupt erst dazu in der Lage gewesen, aus seinem hier verwurzelten Volkstum heraus ein derartiges Werk zu schaffen. Der Künstler verkörpere als Angehöriger einer Nation immer die Summe aller organischen Fähigkeiten eines Volkes. 

Piscator wies Goebbels demgegenüber auf den „Weltbürger“ Goethe hin, was der Berliner Gauleiter wiederum mit der Bemerkung abtat, dies sei er allenfalls in seiner Jugend gewesen; Goethes eigenes Werk habe ihn selbst später glänzend widerlegt. Auch mit Piscators Erwiderung, daß Shakespeares Stücke internationalen Charakter trügen, stieß er auf Goebbels‘ Widerspruch: Shakespeare habe alle seine „internationalen Stoffe“ immer nur ausschließlich als Engländer gesehen und dargestellt. Piscator versuchte es dann mit einem Blick auf Amerika und erntete Goebbels Hohn, denn es gebe überhaupt keine originär „amerikanische Kunst“, weil es sich eben dort nicht um ein homogenes Volk handele und alles, was sie vielleicht in irgendeiner Form an Kultur vorweisen könnten, aus Europa stamme: „Wenn die Kunst nicht mehr aus dem Volk heraus wächst, dann wird sie auch nicht mehr den Weg zum Volk finden, denn eine Kunst, die vom Volk ausgeht, die brauche ich dem Volk nicht zu geben, die wird sich das Volk nehmen!“, dozierte er.  

Dann wurde das Gespräch wieder eminent politisch. Piscator machte als Kommunist schließlich den großen Fehler, dem betont sozialistisch denkenden Goebbels gegenüber von „sozialen Erleichterungen“ zu sprechen, die man von der Regierung einfordern müsse; eine Steilvorlage für seinen radikalen Kontrahenten. Nicht um soziale Erleichterungen gehe es, entgegnete Goebbels mit großem Pathos, sondern darum, die Verhältnisse von Grund auf zu ändern. Die entrechteten Deutschen, so der Berliner Gauleiter, sollten ihre Not in die Nation hinein schreien: “Ich will ihr Wortführer sein, ich will ihnen den Weg zeigen, ich will sie aufwühlen, ich will sie zur Erkenntnis bringen. Das was Sie wollen, Herr Piscator, das ist keine Lösung für einen Revolutionär. Sie gehen nicht an das Wesen der Dinge heran“, setzte Goebbels in überlegenem Gestus und akzentuierter Sprache hinzu. Piscators Einwand, daß er gewisse Lösungen ja nur „für den Augenblick“ vorschlage, fertigte Goebbels mit den sarkastischen Worten ab: „Ein Revolutionär, Herr Piscator, sagt niemals ‚für den Augenblick‘. ‚Für den Augenblick‘ mögen die Reaktionäre Politik betreiben. Revolutionäre aber wollen Politik treiben für die Zukunft – und für die Ewigkeit“. 

Piscator hatte aus der Retrospektive betrachtet nicht gerade vorteilhaft im Duell mit dem  nationalsozialistischen Agitator ausgesehen. Der Rhetorik, der Verve und der Eloquenz des geborenen Demagogen Goebbels hatte er letztlich kaum ernstlich etwas entgegen zu setzen.    

Goebbels erwähnte das Gespräch anschliessend kurz in seinem Tagebuch: „Gestern: Mittags in der Funkstunde interessante Debatte mit Piscator. Über nationale oder internationale Kunst. Auslaufend in einem hochpolitischen Gespräch. Das soll nächste Woche übertragen werden. Piscator ist gar kein Kommunist mehr. Er steht uns näher als der Roten Fahne…Es war sehr amüsant, und die ganze Bonzerie des Rundfunks hat gespannt zugelauscht“. Piscator hingegen erkannte in Goebbels das „andere Gesicht der Moderne“: „Mit finsterem Gesicht und allen Vorurteilen behaftet, betrat ich Bronnens Büro. In der Mitte des Zimmers saß Goebbels, ebenso finster blickend, und natürlich mit denselben Antipathien. Aber das Komische war: Dieser Schreier und Brüller in seinen Parteiversammlungen und im Reichstag, sprach einen mir bekannten, wenn auch den rheinischen Dialekt nicht verleugnenden‚ romanischen Café-Jargon. Seine Augen waren lebhaft, in einem dunkel getönten Braun, blickten wärmer als seine theatralisch gestellte Pose der Abwehr, die er angenommen hatte. Kurz: Er missfiel mir weniger als er mir gefiel. Mir schien, wir beide kamen uns vor, wie zwei sagenhafte, aus der Unterwelt aufgestiegene Tiere, die über einen abgrundtiefen Erdspalt einander zugebeugt, sich ins Gesicht starren. Und das andere Gesicht war ein Menschengesicht, trotz Widerspruchs, trotz Unbehagen, Abwehr und psychischer Widerwärtigkeit. Ein Mensch, der braune Augen hatte, lächelte und meine Sprache sprach, alle meine Freunde kannte, ihre Arbeit, ihre Werke, eigentlich doch einer von uns zu sein schien – und doch genau das Gegenteil von uns. Ja, trugen wir nicht selbst ihn in uns, wahrscheinlich, so wie er uns in sich trug? Denn nur so war es möglich, daß die elektrischen Funken, diese hochgradigen Spannungen sich auslösten in einer stundenlangen Diskussion…Wir sprachen, erregten uns, schrien uns sogar an, objektivierten uns wieder. Er kam uns fast freundschaftlich nahe“. 

Goebbels Auffassung eines ausschließlich national gebundenen Kunstschaffens setzte sich schließlich durch, nachdem die Nationalsozialisten im Januar 1933 die Macht im Reich überantwortet erhielten. In seiner Eigenschaft als Präsident der Reichskulturkammer hatte er die deutschen Theater unter seine persönliche Obhut genommen, hierbei vielfältig unterstützt von Dr. Rainer Schlösser, dem „Reichsdramaturgen“ und Vorsitzenden der Reichstheaterkammer. Wolf Jobst Siedler berichtet in seinen Erinnerungen einiges von diesem Phänomen. 1936 etwa wurden rund 330 reguläre Bühnen, von denen viele erst neu erbaut oder renoviert wurden, voll bespielt. Einige Bedeutung erlangte hierbei kurzzeitig auch der „Thingspielgedanke“, der sich jedoch nicht dauerhaft durchsetzen konnte. Im Wesentlichen hat man sich in der nationalsozialistischen Ära wieder einer klassisch-traditionellen Darstellungskunst angenähert. Das Theater bildete in der Tat einen unlösbaren Bestandteil der NS-Weltanschauung. Auch die großen Masseninszenierungen der Partei, die gesamte Fest- und Feiergestaltung des Regimes, der alljährliche Reichsparteitag in Nürnberg, dokumentarisch meisterhaft festgehalten von Leni Riefenstahl, waren Teil eines großartig angelegten Überwältigungsszenarios. 

Großen Stellenwert hatten auch die öffentlichen Selbstdarstellungen des Regimes, was etwa am Beispiel von Mussolinis Staatsbesuch in Deutschland im September 1937 oder auch anläßlich von Hitlers 50. Geburtstag deutlich wurde und bei denen der Bühnenbildner Benno von Arent die künstlerische Ausgestaltung übertragen erhielt. Es war dies jene „Ästhetisierung der Politik“, bei der nicht selten wiederum auch einige Anleihen bei Piscator erkennbar wurden. Solcherlei Elemente finden sich aber bereits bei den inszenierten Spektakeln, die Gabriele d‘Annunzio 1919 für seine „Arditi“ im besetzten Fiume, der „Stadt des Lebens“, wie es hieß, in Szene gesetzt hatte und von denen später wiederum der faschistische Staat Mussolinis vieles übernahm. Man denke auch an die theatralischen Auftritte des Duce selbst, der einmal, nachdem er eine Rede beendet und den Balkon des Palazzo Venezia wieder verlassen hatte, und angesichts der laut jubelnden Volksmenge zu seiner Umgebung lächelnd meinte: „Un gran Teatro“. Oder an die berechnenden, schauspielerisch gekonnten Verzögerungen, die Hitler zuweilen vor Beginn seiner Reden einsetzte und somit die fieberhafte Spannung seiner Zuhörer nahezu ins Unerträgliche steigerte und dann – zögernd und tastend – in eine atemverhaltene Stille sprach.    

Das weitere Schicksal des Reichspropagandaministers Goebbels ist bekannt. Als mahnender Rufer nach dem Totalen Krieg, insbesondere nach seiner fulminanten Rede vom 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast, ernannte man ihn im Juli 1944 zum Generalbevollmächtigten für den Totalen Kriegseinsatz. Bis zum bitteren Ende blieb er, dem man persönlichen Mut sicher nicht absprechen kann, mit seiner Familie im belagerten Berlin, die letzten Wochen sogar unmittelbar in der Nähe seines Führers im Bunker unter der Neuen Reichskanzlei. Als die Sowjets nur noch wenige Hundert Meter entfernt standen und nachdem Hitler Selbstmord begangen hatte, setzte er am 1. Mai 1945 gemeinsam mit seiner Frau Magda, die im Einvernehmen mit ihrem Ehemann zuvor noch ihre sechs Kinder mit Zyankali vergiften ließ, seinem Leben selbst ein Ende. Die Welt, die nach dem Führer und dem Nationalsozialismus komme, schrieb Magda Goebbels in einem Abschiedsbrief an ihren Sohn Harald aus erster Ehe, sei nicht mehr wert darin zu leben. 

Erwin Piscator war bereits 1931 in die Sowjetunion emigriert und lebte dort im Moskauer Hotel „Metropol“. Während einer Theaterkonferenz 1935 in Moskau, die Piscator leitete, soll ihm der britische Theaterreformer Edward Gordon Craig angeblich eine Avance von Dr. Goebbels angetragen haben, doch in das Reich zurückzukehren und dort seine Arbeit wieder aufzunehmen. Aber Piscator lehnte ab, worauf man ihn ausbürgerte und er 1936 zuerst nach Frankreich übersiedelte und kurz darauf in die USA ging. Wegen seiner äußerlichen Ähnlichkeit zu seinem Gegenspieler Goebbels bekam er dort ironischerweise das Angebot seinen Kontrahenten in einer Filmrolle darzustellen. Piscator aber gründete in New York eine Schauspielschule, den sogenannten „Dramatic Workshop“ an der New School for Social Research.

Piscator erhielt nach dem Kriege im Gefolge der an mittelalterliche Hexenjagden erinnernden Atmosphäre der McCarthy-Ära eine Vorladung des „Komitees für unamerikanische Aktivitäten“. Resigniert kehrte er daraufhin nach Deutschland zurück und traf in den 1950er und 1960er Jahren in der jungen Bundesrepublik erneut den Nerv der Zeit mit Inszenierungen von Gegenwartsstücken zur nationalsozialistischen Vergangenheit, indem er etwa Hochhuths „Stellvertreter“ an der Freien Volksbühne in Berlin uraufführte. Piscator starb 1966 in Starnberg. 

Eine amüsante, abschliessende Note, so die Episode denn tatsächlich der Wahrheit entspricht, erhielt der Schlagabtausch zwischen Goebbels und Piscator, als man sich nach dem Gespräch zu trennen anschickte. Laut Piscator soll der Intendant Flesch am Ende des Rundfunkduells  gefragt haben, ob die beiden Herren ihm die Ehre erweisen wollten, mit ihm zusammen zu Mittag zu essen. Goebbels soll sich daraufhin zu Bronnen mit der Frage gewandt haben „Ist der Mann Jude?“. „Ja, aber ein sehr anständiger Mensch“ lautete dessen Antwort. “Kommt gar nicht in Frage“ entgegnete Goebbels, richtete dann jedoch unvermittelt das Wort an Piscator und sagte: „Piscator, wollen wir zusammen essen gehen?“, worauf letzterer ihm ohne Zögern bedeutete: „Aber ich gehe doch nicht mit Ihnen über die Straße, Herr Doktor“.

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