Opfer

Zwar schmelzen die Polkappen auch nicht langsamer, wenn man sich auf die Straße klebt, aber dafür muss der Bonze im S-Klasse-Benz vor einem ungewaschenen Taugenichts stehenbleiben. Was auch gut ist.

Niemand ist immer stark. Aus dieser Feststellung leitet nicht nur Thomas Hobbes den Gedanken ab, ein geregeltes Zusammenleben der Individuen zu organisieren. So kann unnötige Gewalt vermieden und Sicherheit für jeden geschaffen sowie Konflikte in konstruktive Bahnen gelenkt werden. Lange vor intellektuellen Spielereien zu Gewalt und Gesellschaft bestand im Menschen der Drang, weniger begüterten Mitmenschen zumindest eine gewisse Kompensation für ihre Schwäche, ihr Pech oder ihre Unzulänglichkeit zuzugestehen. Ein derartiges Verhalten stärkt den Zusammenhalt der sozialen Gruppe und schafft für den Einzelnen eine Absicherung im Falle des Falls. Für gewöhnlich schwanken Gesellschaften über die Zeit zwischen Perioden, in denen mehr Wert darauf gelegt wird, die Schwachen zu schützen, abgelöst von solchen, in denen die Stärke gefördert wird. Beides ist wichtig und nur in der jeweiligen Übersteigerung ein Zeichen von pathologischem Massenverhalten. Besonders in Zeiten des Niedergangs und Zerfalls wachsen derartige Übersteigerungen ins vollkommen Absurde und wechseln sich immer schneller gegenseitig ab. Aus wohliger Ferne lässt sich dieser Vorgang hinreichend dokumentiert und analysiert in den letzten drei Jahrhunderten des Weströmischen Reiches beobachten.

Gegenwärtig scheinen unsere Gesellschaften, insbesondere in Europa und Nordamerika, in einen derartigen Strudel zu geraten. Ob wir verschluckt werden, bleibt abzuwarten. Hierbei überwiegt momentan der Hang, denen, die es vermeintlich oder tatsächlich weniger gut im Leben hatten, eben jenes zu erleichtern, während einige besser Gestellte für ihre reine Existenz verurteilt werden. Dabei soll an dieser Stelle keineswegs das Eintreten für die weniger Glücklichen bemängelt werden, ebenso wenig wie die Kritik an Egoisten und Gierschlunden. Nur ist dies in seiner übersteigerten Form ebenso krankhaft wie das Gegenteil. Zu Letzterem siehe das Schicksal der verkrüppelten, entstellten und gefallenen Soldaten in den USA oder der Russischen Föderation. Haben sie erst einmal mit ihrer Gesundheit oder gar ihrem Leben dafür bezahlt, dass die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen ihrer Herren durchgesetzt werden, verkommen sie zu nutzlosem Spittel, der mit ein paar recht ansehnlichen Paraden, etwas kitschigem Pathos und ein paar Scheinen Papiergeld abgespeist wird.

Dennoch erfreuen sich das Opferdasein und dessen Nutzbarmachung derzeit großer Beliebtheit. Ein ganzer Komplex unterschiedlicher Ausformungen dieses Phänomens soll hier beschrieben werden, beginnend bei den harmloseren, in erster Linie selbstschädigenden Formen, fortschreitend zu solchen, die außerordentlich destruktive Ausmaße annehmen können. Dies ist jedoch nicht zwingenderweise ein Maß für die zuweilen damit einhergehenden ungesunden Vorgänge im Seelenleben der Betroffenen. Zudem gilt zu beachten, dass bei einem Individuum mehrere dieser Formen auftreten können. Dabei geht es ausdrücklich weder darum, irgendwen für seine Schwäche, Krankheit oder Mängel zu verurteilen, noch zu belobigen.

Die erste Gruppe besteht aus Menschen, die sich in einer zeitlich begrenzten oder dauerhaft misslichen Lage befinden, ob nun selbstverschuldeter Weise oder durch äußere Umstände. Statt im Rahmen der Möglichkeiten nach Auswegen oder einem heilsamen Umgang mit den Umständen zu suchen, verlieren sich diese Menschen in ihrem Opferdasein. Offensichtlicher Weise ist es nicht immer leicht, sich aus unglücklichen Umständen zu befreien. Zumal sich einige Dinge nicht ändern lassen und Komplexe, Blockaden und Neurosen sehr hartnäckig sein können. Wer etwa lebenslang an einen Rollstuhl gefesselt ist, wird niemals einen Marathon laufen. Der wohlüberlegte Umgang und die ernsthafte Beschäftigung damit würde langfristig neue Möglichkeiten eröffnen, von denen viele Menschen nicht zugänglich sind, die eine andere Lebensgeschichte haben. Das aber geht nicht von heute auf morgen, sondern ist Ergebnis einer ständigen und häufig schmerzhaften Seelenschau sowie dem klugen Ausloten von glücklichen Abzweigungen im Lebensweg. Selbst wenn ein schwerer Alkoholiker eines Tages nach durchzechter Nacht aufwachen und einfach so aus einer ihm zuvor völlig unbekannten Laune heraus beschließen sollte, von nun an nichts Gebranntes, Gebrautes oder Vergorenes über seine Lippen zu lassen, wird ihm dies in den allermeisten Fällen nicht auf Anhieb gelingen. Falls eine Genesung gelingt, so ist dies in näherungsweise allen Fällen ein langwieriger Prozess, der durch Rückfälle und das Bewusstwerden diverser seelischer Narben geprägt ist.

Einige Menschen richten sich jedoch in ihrem Opferdasein ein. Sie verharren in der unglücklichen Lage, in der sie sich befinden, ohne dabei Möglichkeiten zu nutzen, die eine langfristige Verbesserung der Gesamtlage versprechen. Unter Umständen dient eben jener Schicksalsschlag als Rechtfertigung für Unzulänglichkeiten in allerlei Lebensbereichen, auch denen, die nicht unmittelbar von Pech gestraft sind. Häufig entwickeln Menschen in dieser Lage eine „So bin ich nun mal“-Haltung. Das allerdings ist bei näherer Betrachtung in den meisten Fällen nicht wahr. Immerhin hat nahezu jeder Mensch auf dieser Welt irgendwelche Dinge, auf die er zurückgreifen und etwas für ihn Annehmbares daraus machen kann. Nur fehlt allzu oft die Kraft, der Mut und der Ehrgeiz dazu. Wenn dann auch noch erlernte Hilflosigkeit dazu kommt, ist das Malheur perfekt. Ein solcher Mensch befindet sich in einem Loch, aus dem er nicht hinausweiß und das er an nicht wenigen Tagen, mal hier, mal dort, ein Stückchen tiefer gräbt.

Die zweite Gruppe weiß zumindest ein Ding ihrer Existenz zu nutzen, nämlich das Opferdasein selbst. Sozialleistungen, ermäßigte Eintritte, Mitleid und noch viel mehr sind neben all den Unannehmlichkeiten ein kleiner oder manchmal auch großer Lichtblick. Wenn einem das Leben Zitronen in den Weg legt, dann trinken diese Menschen Zitronensaft – und davon reichlich. Sicher ist es eine gute und erhaltenswerte Eigenschaft vieler Gesellschaften, strauchelnden Mitgliedern eine helfende Hand zu reichen. Allerdings besteht ein Unterschied darin, ob sich jemand, der in einem Sumpf steckt, herausziehen lässt, oder ob sich einer auf einer Sänfte die Treppe herauftragen lässt, obwohl er aus eigener Kraft den Aufzug nehmen könnte. So bedauerlich das Schicksal sein mag, wird es von einigen dazu verwendet, Vorteile in Anspruch zu nehmen, die unter Umständen wenig mit dem eigentlichen Unglück zu tun haben. Dabei wird nicht nur die eigene erlernte Hilflosigkeit gemästet, sondern auch von der Gesellschaft geschröpft. Das Opferdasein verkommt damit nicht nur zur Entschuldigung der Unzulänglichkeiten anderen und vor allem sich selbst gegenüber, sondern auch zum praktischen Werkzeug, um allerlei zu erlangen und andere für sich arbeiten zu lassen.

Die dritte Gruppe bedenkt nicht nur den eigenen Oikos, sondern auch die Polis, wenn sie ihr tatsächliches oder vermeintliches Opferdasein in Stellung bringt. Aus dem eigenen Nachteil wird eine scharfe Waffe der Forderung nach gesellschaftlichem Wandel oder zumindest nach Unterwerfung vor dem Opfer und seinem Schicksal. Vor allem diejenigen, die zumeist nicht unter körperlichen oder ernsthaft lebensbeeinträchtigenden psychischen Erkrankungen leiden, deren wirtschaftliche Situation nicht prekär ist oder die nicht einer existentiell bedrohlich verfolgten Gruppe angehören, nutzen ihren häufig mehr oder minder selbst definierten Opferstatus als ein solches Instrument. Ein harmloserer Fall ist etwa die Feministin, die den Sexismus, die Rapeculture und toxische Männlichkeit ankreidet, während Männer ihr Feind- und Hassbild Nummer Eins sind. Hierbei werden reale Probleme, Ungerechtigkeiten und möglicherweise tatsächlich erfahrene Unterdrückung instrumentalisiert, um eigene, damit bestenfalls nur lose zusammenhängende Interessen durchzusetzen und Macht auszuüben. Problematischer ist es, wenn beispielsweise im Namen des Arbeitskampfes Mitglieder einer Gewerkschaft unwillige Kollegen sozial ausgrenzen und unter Druck setzen, vor allem, wenn die Bestrebungen von vornherein nicht nur gegen die Unterdrückung gerichtet sind, sondern auch dem eigenen Vorteil dienen.

Die vierte Gruppe besteht selbst nicht aus Opfern. Zumindest ist dies keine notwendige Bedingung, um ihr anzugehören. Das braucht es auch nicht, denn statt das eigene Übel herauszupolieren und stolz zur Schau zu tragen, sucht sich diese Gruppe einfach wen anders. Unglückliche gibt es genug, und aus jenem schier unerschöpflichen Arsenal kann bequem ausgewählt werden. Zwar schmelzen die Polkappen auch nicht langsamer, wenn man sich auf die Straße klebt, aber dafür muss der Bonze im S-Klasse-Benz vor einem ungewaschenen Taugenichts stehenbleiben. Ebenso wie der selbstständige Handwerker und nicht zu vergessen der Schlaganfallpatient im Krankenwagen. Das ist wahre Macht, da können Kapital, Fleiß und Martinshorn einpacken. Abgesehen davon gibt es gar kein größeres Opfer als die ganze Welt, wie praktisch, wenn man sich dafür einsetzt.

Natürlich geht es bei Bedarf auch ein paar Nummern kleiner. Man legt ein Verhalten an den Tag, für das man nicht kritisiert werden will? Wie praktisch, dass es bestimmt irgendwelche Behinderten gibt, die nicht anders können. Und wer wäre denn solch ein Unmensch, die armen Behinderten zu kritisieren, die nun gar nichts für ihr Schicksal können. So absurd es klingt, so gut geht es. Bei harmlosen Fällen, die abgesehen von der eigenen Unsicherheit wohl niemand ankreiden würde, fängt es an. So etwa

ein völlig Gesunder, der sich blöd vorkommt, mit Automatik statt manueller Schaltung zu fahren. Statt es einfach dabei zu belassen, werden nun Menschen mit Gehbehinderung oder sonstigen Problemen an Bein oder Fuß ins Feld geführt. Denn diese müssen mit Automatik fahren, es wäre niederträchtig, die Behinderten dafür zu schelten, daher dürfe niemand, der mit Automatik fährt, dafür gescholten werden, da es sonst diskriminierend sei. Natürlich nur wegen den armen Behinderten und selbstverständlich nicht wegen des Gesunden und seines angeknacksten Selbstbewusstseins. Das Spiel zieht sich über amüsant-skurille Fälle weiter. So beispielsweise den einer bekannten selbsternannten militanten Aktivistin für Veganismus, die sich nicht zu schade ist, kleine Kinder des Mordes zu bezichtigen, weil die Kleinen ein Würstchen essen. Sicher geht es dabei nur um die armen gequälten Tiere, ganz bestimmt. Gänzlich unlustig und bitter ernst wird es aber spätestens dann, wenn etwa Vertreter dieser oder jener Kriegspartei die eigenen Toten vor der Weltöffentlichkeit aufrechnen, dabei gerne zerfledderte Kinder und leere Brutkästen für Frühgeborene in die Kamera halten und damit die Weltgemeinschaft auf ihre Seite und die Verbündeten zu aggressiveren Vorgehen bringen wollen. Zumal diejenigen, die die Bilder in Umlauf bringen, in den allermeisten Fällen dort sind, wo keine Bomben fallen und keine Kugeln fliegen. Offensichtlicher Weise gibt es ebenso ein berechtigtes würdevolles Gedenken an und ein Eintreten für Opfergruppen, wie es eine selbstsüchtige, zuweilen propagandistische Ausbeutung eben jener gibt.

Abschließend lässt sich sagen, dass das Opferdasein für einige Menschen eine scheinbar profitable Angelegenheit darstellt. Das ist jedoch ein Trugschluss. Denn ein Opfer zu sein, ist nichts Gutes. Wer ernstlich in eine Schieflage geraten ist, hat dies mitunter nicht selbst zu verschulden und sollte dafür natürlich nicht bestraft werden. Allerdings ist er eben in einer Schieflage. All die Nettigkeiten und Sonderrechte, die er erhält, erhält er, weil andere davon ausgehen, dass dies das Mindeste ist, um eben jener Schieflage entgegenzuwirken. Dass also das Übel mindestens so schlimm ist wie das, was dagegen in die Waagschale geworfen wird. Zudem zehrt das zelebrierte Opferdasein am Selbstbewusstsein. Mit jedem Mal, da es erwähnt wird, da es zum Tragen kommt, erinnert es das vermeintliche oder tatsächliche Opfer daran, einen oder mehrere schwerwiegende Mängel aufzuweisen und von der Gnade anderer abhängig zu sein. So sehr eine Mildtätigkeit gegenüber jenen, denen es weniger gut geht, geboten sein sollte, so sehr sollte jeder nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, eben nicht dort zu landen. Allein schon weil der Sieger einer Opferolympiade der größte Verlierer ist.

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