Ist der Drang zur Tat eines jungen Menschen ein gesunder? Sind Gedanke und Doktrin unweigerlich mit dieser Lebensphase verbunden? Diese Fragen werden zumeist implizit beantwortet, wenn von „jugendlichem Idealismus“ gesprochen wird. Eine Lebensphase bedeutet immer auch einen eigenen Bezug zur Zeit – ebenso ein anderes Verhältnis zur Welt und zu praktischen Notwendigkeiten. Und diese praktischen Notwendigkeiten sind häufig politischer Natur.
Der Drang zur Tat wohnt vielen philosophisch interessierten jungen Menschen inne, die sich ihrer Möglichkeiten bewusst werden. Es ist ein inneres Brennen, eine unstillbare Unruhe, die sich entfalten will. Es ist das Verlangen nach klaren Antworten. Gerade darin aber liegt die Versuchung: Der Drang verführt zu vorschnellen Urteilen, zu Oberflächlichkeiten, Scheinlösungen und Doktrinen – zu Theorien und Simplifikationen, die den Willen zur Tat kanalisieren und in Dichotomien verfestigen, also in klaren Freund- und Feindbildern.
Aus dem Drang wird erst dann ein Wille, wenn man sich dieser Mechanismen bewusst ist. Der Drang zur Tat trägt für sich genommen keine Tiefe in sich; er wird getragen von einem Gewissen der Notwendigkeit – der Notwendigkeit von Veränderung und Klarheit. Dieses Gewissen speist sich jedoch nicht aus Wissen, sondern oft aus Selbstüberschätzung. Und diese Überschätzung wird weiter angefeuert durch die scheinbar gewonnene Sicherheit von Doktrin, Feindbild und Eindeutigkeit. Doch all das ist keine Sicherheit, sondern Irrtum.
Der Drang zur Tat ist Ungeduld. Er ist nicht selten das Handelnwollen, um nicht denken zu müssen. Der Drang ist ein unkontrollierter Impuls – die gesunde Irrationalität des Menschen. Er ist intuitiv, schöpferisch, kraftvoll.
Wahre Kraft liegt jedoch oft nicht in der Tat, sondern im Verzicht. Selbstbändigung, Kontrolle und kultivierte Zurückhaltung der eigenen Affekte zeugen von Größe. Wer verändern will, muss verstehen; und wer verstehen will, muss sich zurückziehen und sich selbst finden. Der Trugschluss des Drangs zur Tat besteht darin, zu glauben, Selbstfindung folge aus der radikalen Tat – als müsse erst die Handlung das Ich neu erschaffen. Sich neu zu schaffen setzt jedoch voraus, sich gefunden zu haben. Alles, was danach folgt, ist sonst nur die Wiederkehr des Gleichen in anderen Formen.
Sich neu zu schaffen heißt nicht, sich bloß zu verändern, sondern die höchste Form seiner selbst zu werden. Das ist der wahre Wille zur Tat. Nicht jeder Impuls ist der Verwirklichung wert. In der Tat der Zurückhaltung zeigt sich, wer die Kraft besitzt, kein Getriebener zu sein. Zurückhaltung ist eine Haltung, mit deren Hilfe man Abschied nimmt vom unmittelbaren Drang zur Tat. Abschied bedeutet nicht Passivität, sondern Abkehr vom Falschen: weg von der Unüberlegtheit.
Der Weg, der der unmittelbaren Tat den Vorrang zugesteht, ist ein falscher, denn er kann kein Zustand von Dauer sein. Er ist immer nur eine situative Lösung – eine Lösung, die weder in konkreten Lebensphasen trägt noch auf der Suche nach zeitloser Orientierung hilft.
Die kultivierte Zurückhaltung, die wir der Tat gegenüberstellen, hat den Zweck, den Philosophen auf sein Fundament zurückzuführen: weg von der Tat, hin zum Wissen. Das Streben nach Wissen bietet jene zeitlose Orientierung. Das Wesen des Philosophen ist ein Wesen, das auf Letztbegründungen verzichtet – und damit auf vorgegebene Antworten und fertige Weltsichten. Der Wille zur Wahrheit ist es, der den Philosophen auszeichnet. Er weist die Doktrinen zurück, in deren Bann der Drang zur Tat so leicht gerät.
Bloßes Handeln bietet keine Orientierung; es lässt vielmehr in Abhängigkeiten geraten. Das Streben nach Reflexion und Wissen verleitet nicht dazu, weniger zu handeln, sondern tiefer, direkter und klarer zu wirken: die Tat in einen Zusammenhang zu setzen, ohne ihr den Charakter einer Erlösungstat zu geben. Dieses Bewusstwerden ist eine Lebensform, die unabhängig von Lebensphasen für die Philosophie gilt.
Der Wille zur Wahrheit ist die höchste Form der Reflexion. Reflexion bedeutet nicht, die Dinge in ein großes, alles zusammenhängendes Konstrukt zu zwingen, sondern sie in ihrer Einzelheit und Besonderheit zu sehen – und zu verstehen.
Der jugendliche Idealismus begeht oft den Fehler, sich der Sehnsucht nach absoluten Antworten hinzugeben und auf der Suche nach der allgemeinen Wahrheit zu sein. Es ist schön und richtig, höhere Ziele zu haben – doch naheliegend ist es, wenige konkrete, aber große Ziele zu verfolgen. Nicht die eine große Tat verleiht Sinn, sondern die stetige Reflexion und – mit ihr im Einklang – die vielen Taten.