Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia

Als ich im Herbst 2012 nach Wien kam, hatte ich jenen Punkt erreicht, wo im Widerstreit aller Gegensätze – von Herrschaft und Opfer, Rausch und Ordnung, Chaos und Gestalt – wo sich in diesem Krieg der Kriege, wie Burckhardt auf den Pergamonaltar bezogen sagt, der Verlust aller Zeitbezüge manifestierte. Darin liegt auch ein universeller Mechanismus, Gang und Stand der Dinge.

Als ich im Herbst 2012 nach Wien kam, hatte ich jenen Punkt erreicht, wo im Widerstreit aller Gegensätze – von Herrschaft und Opfer, Rausch und Ordnung, Chaos und Gestalt – wo sich in diesem Krieg der Kriege, wie Burckhardt auf den Pergamonaltar bezogen sagt, der Verlust aller Zeitbezüge manifestierte. Darin liegt auch ein universeller Mechanismus, Gang und Stand der Dinge. Die Wahrnehmung von Zeit vollzieht sich als Spiegelung der Epoche im eigenen Handeln. Hierselbst als Dreischritt der Läuterung:

I.
In einer ewigen Wiederkunft des Gleichen ist Schauspielerei die Revision der Zeit, eine seltsamer Fall von Heterochronie. Der kapitolinische Spinario als Urbewegung und der Don Giovanni als das Inbild einer totalen Kontrolle meines eigenen Körpers. Man könnte auf die Laokoon Gruppe verweisen: „die Poesie ordnet die Zeit“ sagt Lessing. Das Marionettentheater und die Spannung zwischen Kreatur und Gottheit: „Die Poesie ordnet die Bewegung“ sagt Kleist. Darin liegt eine Art „Ruh der Götter“. Und so gilt’s den Meisterschuss ins Herz des Glücks zu setzen und alle Suche ersehnt die ferne Ordnung der Vorvorahnen, den Geist aller vergangenen Nächte. So weit liegt das aber zurück, im doppelten Sinn, im Seelischen, im Staatlichen: die Vorvergangenheit bildet eine unbestimmte Regung unserer raumzeitlichen Wahrnehmung. In Allem gleicht die topographische Entsprechung dieser Regung dem Archipelagos. Auf der Insel Antiparos, wo ich einige Zeit verbrachte, las ich Roberto Calassos Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia. Mythologische Korrelate als die ewig sich fortsetzende Reihe von Entsprechungen. Aus durch Natur belebten Tempeln entweichen „unverständlich wirre Worte“ und der Abglanz eines jeden Auszugs, ist bloßer Anschein, Symbol, versiegelte Zeit, Erscheinung: „Wie endlose Dinge in Ewigkeit blühn; / Wie Ambra und Moschus und Weihrauch erklingen, / Das Wandeln des Geists und der Sinne besingen.“

II.
Auf der Suche nach letzter Gewissheit dieser Erscheinung, Prousts Recherche als Mystifizierung (nicht Mythologisierung) des Phänomenalen gelesen: Mit der verlorenen Zeit beginnt das Jahrhundert der Sinne. Doch hat man so viele Augen nicht, alle besuchten Landschaften neu zu sehen. Das Phänomen ist der Illusionsraum nach der Vertreibung aus den Fügungen der Zeit. Eine Welt umspannt von Phänomenen, das Netz aller Netze, Interaktivität, ein ewiger Augenblick aus schwarzen Spiegeln schauend. All diese Momente „verloren in der Zeit, so wie Tränen im Regen“. Der nach oben hin offene, unbedachte Raum der Abbazia von San Galgano spiegelt die vergessen-verlorene Behausung im Feld der Nostalgie, die Zeit zu sterben. Ich bin erwacht aus dem Tode des Abschieds und die scharfe Kante zwischen „Vorzeit und neuer Zeit“, das ist die Grenze des Aufbruchs aus der neuen Welt in die Alte: totale Trauer, totale Nostalgie, totale Hingabe an die unbeherrschte, exaltierte Bewegung.

III.
Noch am ehesten Ausdruck männlicher Sammlung und sonst aus irgend Himmeln daherkommend: Relation. Es liegt alles an einer Form nihilistischer Kälte, zynischer Selbstbehauptung, freischwebender Bezugslosigkeit – Nach Cioran, die letzte Zuflucht des untergehenden Geistes und intellektuelle Herrschaftsgewalt. Überallher Strukturen und die Kälte atomarer Ordnungen. Ich besuchte einmal Ulrich Horstmann. Der spricht unentwegt vom haltlosen Zusammenstürzen der Welten. Haltungen sind im Bereich der Menschenleere jedoch nur Staffage, Kompensationsraum frei erdachter Bezüge. Was mich schützt, das ist ein Stoizismus der öffentlichen Apathie und der privaten Epithymie. Die Ebenen des Kontinents sind das Pflaster einer weitgespannten Sehnsucht nach östlichen Lebensräumen. Aber ich hasse Asien, ich hasse Asien aus ganzer Seele. Die Ebene, die tellurische Weite, das Unbegrenzte und Ungehaltene, sind Ausdruck anthropofugaler Sehnsüchte. Als die Russen vor Kiew standen, wie gewaltig und wie schrecklich zugleich: Batu Khan und die Goldene Horde vor unseren Toren, Sykthen und Parther in unseren Städten, das schwarze Messer am reinen Herzen.

KADMOS & HARMONIA
Die Wiederentdeckung des Eigenen, das ist die Rückbesinnung auf unsere „mythologischen Wurzeln“, ganz nach Calasso gesprochen. Kadmos ist der Sohn des Agenor. Seine Schwester Europa, von Zeus geraubt und auf die Insel Kreta geführt. Sein Vater untröstlich. Alle Söhne opfernd der Suche. Welch eine Schmach uns angetan wird. Der Raub des Eigenen, Jahr um Jahr, vollzieht sich als eben dieses Herausfallen aus den Fügungen der Zeit. Der Raub der Schwester, zumal für Mediterrane, die größte aller Schanden. Die Verfremdung Europas ist Ausdruck der Fragmentierung seiner topographischen Ordnung. Die Schickung des Kadmos wiederum, ist Anbeginn einer Neuvermessung europäischen Lebensraumes. Das Neugeschaffene aus der Quelle des Kriegs und des Zwistes, die Spartoi, bilden die Saat der neugegründeten Welt und sind die fünf Streckungen des europäischen Zivilisationsgebiets. Kadmeia als Ur-Rom mit sieben Toren statt sieben Hügeln.
Dann: auftauchend aus dem Bekannten (alles Schöne kommt nicht aus der Überraschung, sondern aus der Beharrlichkeit der Fügung), die Hände ineinandergeschlungen wie bei Hesiod, den Reif des Thebaners als Angebind tragend: die Harmonie. Ohne Eltern eigentlich, dem Krieg und der Liebe entwachsen. Im Krieg und in der Liebe nähert sich das Leben als Ganzes am stärksten dem Ideal. Das Recht des Kadmos besteht nicht im Widerfinden der verlorenen Zeit, sondern im Entdecken der eigenen Räumlichkeit, des Lebensraumes, d.i. nicht der Schutz- und Verteidigungswall, sondern die Ermächtigung zur Eroberung, Sturm- und Kriegsgeläute. „Mit Unrecht sagt Homer: Möchte doch schwinden der Streit aus der Welt der Götter und Menschen. Dann ginge ja alles zugrunde. Denn es gäbe keine Harmonie, wenn es nicht hohe und tiefe Töne gäbe, und keine lebenden Wesen ohne Weibliches und Männliches, was doch Gegensätze sind.“ Und in den Widerstrebungen des Kadmos, symbolisiert durch den Reif des Hephaistos, liegt Heiligkeit für die Rückeroberung des Eigenen: Herrschaft und Heimstatt.
Was folgt daraus? Anders-Zeit und Hoch-Zeit. die Heimführung der Braut ins „ewige Recht“. Nám quae Márs aliīs, dát tibi díva Venūs. Die Harmonie ist die Überwindung jeder Ungunst. Sie ist jene, die alles findet. Das Sakramentale des Ehebundes übersteigt Neigung und Ritualisierung, er teilt die Zeit, er ist lebendig und des Lebens. Als solches ist der neue Bund auch nicht Ausdruck der Konvention, der Geschichte, des Gesetzes, sondern die Gewissheit der absoluten Fügung (ἁρμός – armos: „Fuge, Zusammenfügung“, indoeuropäisch *ar „fügen“, zu Harmonia).

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