Der Tanz aus der Reihe

Leben und Sterben des Pfarrers Hans Milch

Die Saat des Ungeistes von 1968 ist in den deutschen Kirchen beider christlicher Konfessionen in besonders hohem Maße aufgegangen. Angefangen bei der Familie, über alle Begriffe von Nation, Volk, Staat, nationaler Solidarität und Kultur, bis hin zum Fundament unserer gesamten christlich-abendländischen Moral und unseres Glaubens, ist vor der destruktiven Berserkerwut sogenannter „christlicher Reformer“ kaum noch etwas sicher. Keine Bußfertigkeit und kein zeitgeistlastiges Betroffenheitsritual, an dem sich der überwiegende Teil des Klerus in den letzten Jahrzehnten nicht unterwürfig beteiligt hätte. Von Glaube, Gebet, von der Lehre Jesu und – bei den Protestanten – dem Wirken Luthers oder der Geschichte der Reformation ist auf den Kanzeln kaum noch die Rede. Das schwammige „Kirchenasyl“ schreit mit seinem tausendfachen Missbrauch schon seit Jahren zum Himmel. Die grauenvoll gegenderten Bibeltexte, Trauungen gleichgeschlechtlicher Paare, die völlige Entleerung des Sinns des Sakraments und die Verfälschung sowie Umdeutung von Mythos und Ritus tun ein Übriges. Frauenordination, die kaltschnäuzige Freigabe ungeborenen Lebens zur Tötung und die beabsichtigte Öffnung des Priesteramtes für verheiratete Männer – all das wird über kurz oder lang zum völligen Verfall der Kirchen, ja vielleicht zu ihrem Ende führen.

So ist es angezeigt, auf einen zu verweisen, der all dies bereits vor Jahrzehnten erkannte, vorhersah, beschrieb und mit laut vernehmbarer Stimme eindringlich davor warnte: Johannes („Hans“) Philipp Milch, ein letzter Katechon, ein Aufhalter. 1924 als jüngstes von drei Kindern eines Rechtsanwalts in eine protestantische Familie in Wiesbaden geboren, machte er das Abitur, bevor man ihn 1942 zur Wehrmacht einberief. In Italien geriet er in US-Kriegsgefangenschaft; später internierten ihn die Franzosen. Tief beeindruckt von langen Gesprächen mit einem katholischen Pfarrer, der regelmäßig Messen für die Gefangenen abhielt, konvertierte Hans Milch 1946 zum Katholizismus. Es handelte sich bei diesem Kirchenmann um keinen Geringeren als Franz Stock, der während der deutschen Besatzungszeit in Paris für die Seelsorge in den Gefängnissen und der Hinrichtungsstätte auf dem Mont Valérien zuständig war.

Bald nahm Milch das Studium der Theologie an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt am Main auf, damals noch ein Hort der Tradition und des klerikalen Konservatismus. 1953 wurde er im Limburger Dom zum Priester geweiht, fühlte die Hand des Herrn über sich, der zu ihm sprach: „Du bist mein!“. Es folgten Stationen als Kaplan in Lorch am Rhein, Rennerod im Westerwald und schließlich am Frankfurter Dom, bevor er 1962 an die Pfarrkirche St. Martinus in Hattersheim am Main kam. Lange vor der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils apostrophierte Milch die Repräsentanten der Weltkirche als von einer wahrhaften „Konzilsbesoffenheit“ befallen.

Er selbst ging vehement gegen die dort proklamierten modernistischen Beschlüsse vor – insbesondere gegen Papst Johannes XXIII. und die ihm gewogenen Kardinäle –, vor allem aber gegen den allgemeinen Modernismus, der seitdem in der katholischen Kirche allenthalben Einzug gefunden hatte und nicht nur einen eklatanten Rückgang der Besucher der Heiligen Messe zur Folge hatte, sondern auch zahlreiche Austritte aus Priesterseminaren und Klöstern verantwortete. Besonders radikal war seine Ablehnung der „Novus Ordo Missæ“, der neuen Messe, die Milch als Verwässerung der katholischen Tradition betrachtete.

Milchs Kritik richtete sich auch gegen das Konzilsdokument „Gaudium et spes“, in dem Ordensleute aufgefordert wurden, „im Dialog mit der Welt und mit Menschen jedweder Weltanschauung ihren Beitrag zu leisten“. Polemisch entgegnete er: „Dialog mit der Welt – das ist die teuflische Selbsterniedrigung, sich in die Welt integrieren zu lassen, als Beitrag sozusagen. Oder können Sie sich vielleicht einen Dialog zwischen Thomas von Aquin und Willy Brandt vorstellen? Ich denke, der heilige Thomas wird mir diese kuriose Vision von der Ewigkeit her verzeihen.“

Wenn Milch in seinen Predigten oft auch von heiligem Zorn erfüllt war, so war er privat ein geselliger, humorvoller Mensch voller Liebenswürdigkeit, mit großem Talent zur Parodie. Dennoch war er in vielem auch recht unorthodox, indem er etwa zu den Klängen aus Wagners „Parsifal“ oder Bruckners Achter Sinfonie die Messe zelebrierte, womit er innerhalb der Gemeinde nicht nur auf Gegenliebe stieß. In seinen Predigten nahm er überdies nicht selten Bezug auf Goethe, Nietzsche, Rilke, Stefan George und Ernst Jünger, die er offensichtlich hoch geschätzt haben musste. Zudem war er von großer Güte und Barmherzigkeit sowie fähig, sich in das Leid des Einzelnen einzufühlen. Ganz besonders nahm er sich der gestrandeten und völlig heruntergekommenen Menschen im berüchtigten Frankfurter Bahnhofsviertel an.

Milchs gesamtes Denken war davon durchdrungen, Gott Sühne zu leisten für den zerstörerischen Zeitgeist, der seit den Konzilsbeschlüssen in der Kirche tonangebend war. Wer sich einmal von der Gottesliebe überwältigen ließ, so Milch, der müsse „brennen wie Feuer, immer in Bewegung und alles verzehrend“. Nachdem er sich auch von der „Bewegung für Papst und Kirche“ abgewandt hatte, fasste er 1972 den mutigen Entschluss, die „Actio spes unica“ ins Leben zu rufen – eine „Kampf- und Sühnegemeinschaft“, welche die der katholischen Tradition strikt zuwiderlaufenden neuen Grundsätze des Zweiten Vatikanums scharf verurteilte, die Rückkehr zur Verkündigung des wahren Glaubens proklamierte und dazu aufrief, diese beschleunigt herbeizuführen. „O crux, ave, spes unica!“ – „O Kreuz, sei gegrüßt, einzige Hoffnung!“ war der Wahlspruch seiner Gemeinschaft, deren Mitglieder sich durch ein Gelübde verpflichten mussten, täglich für die Rettung der Kirche zu beten, ein Gebet an den Erzengel Michael zu richten und jeden Freitag zu fasten.

Hans Milch erwies sich in seinen Predigten und Vorträgen als von außerordentlicher Wortgewalt, was vor allem sein „Schwur wider das II. Vaticanum“ illustriert: „Wir halten daran fest und werden ohne Unterlass daran festhalten“, oder auch „wir verwerfen und werden immer verwerfen“. Zuweilen wirkte er wie ein wiedergeborener Jan Hus, Savonarola oder Luther, wobei der Furor des Konvertiten sicher dazu beitrug. Milch beherrschte die Kunst der freien Rede in nahezu allen Nuancen und war von einer fast unglaublichen Gewalt des sprachlichen Ausdrucks. Nietzsches hoher Ton und die strenge Zucht, in die einst Stefan George die deutsche Sprache genommen hatte, feierten in den Worten Milchs ihre Auferstehung.

Er sprach über Themen wie „Die teuflische Konzils-Ideologie“, „Der drohende Untergang Europas“, „Das spezifisch Katholische“, „Wie ist Luther zu begreifen?“, „Zeitvergötzung, Fortschrittsbetrug“, „Maria in der Endzeit“ oder „Die Bedeutung Europas für das geistige Schicksal der Welt“. Einmal forderte er „jeglichem freimaurerischen Einfluss bedingungslos zu wehren und abzuschwören und sich abzuwenden von jener dem Wesen der Kirche widersprechenden ‚Demokratisierung‘, die seit vielen Jahren das ehrfürchtige Staunen zerstört und das Verhältnis des menschlichen Bewusstseins zur Wahrheit pervertiert und korrumpiert“. Papst und Bischöfe, so Milch unmissverständlich, würden „den offiziellen Innenraum der Kirche besetzt halten“.

Verstärkt hob er den französischen Erzbischof Lefebvre als herausragendes Gegenbild hervor. Dieser hatte 1970 die Priesterbruderschaft St. Pius X. gegründet und wurde – nachdem er 1976 nicht autorisierte Priesterweihen vorgenommen hatte – von Papst Paul VI. suspendiert und ihm alle Vollmachten entzogen. Milch wandte sich immer mehr Lefebvre zu, geriet jedoch auch selbst in harte Konflikte, etwa mit Bischof Wilhelm Kempf von Limburg, der ihn 1979 von seinem Amt als Pfarrer von Hattersheim enthob.

An dem Sonntag, der auf die Absetzung folgte, spielte sich in der Pfarrkirche St. Martinus eine dramatische Szene ab: Kaum hatte der neue Pfarrer die Messe begonnen, verließen nahezu alle Gläubigen schweigend den Kirchenraum. Keine Orgel erklang, die Messdiener gingen nach Hause. Anschließend zogen mehrere Hundert Katholiken in einem Schweigemarsch durch Hattersheim, protestierend gegen Milchs Amtsenthebung. Wenig später machte Milch die St.-Athanasius-Kapelle zum geistlichen Zentrum seiner Gemeinschaft. Zunächst provisorisch eingerichtet, feierte er dort die heilige Messe im alten tridentinischen Ritus, manchmal sogar in seiner Wohnung, nur wenige hundert Meter entfernt von seiner früheren Pfarrkirche. In zahllosen Bettelbriefen und Spendenaufrufen warb Milch für die Errichtung der endgültigen Kapelle. Diese bürokratische Tätigkeit zermürbte den Pfarrer beinahe, doch schließlich konnte die Kapelle von Erzbischof Lefebvre geweiht werden.

Milchs Gottesdienste in Hattersheim wurden meist von etwa 250 Gläubigen besucht. Bekannt wurde er durch mehrere bundesweite Großveranstaltungen, sogenannte „Glaubenskundgebungen“. 1977 fand eine solche in der Rhein-Main-Halle in Wiesbaden mit etwa 3.500 Teilnehmern statt. 1978 folgte eine Großkundgebung in der Rhein-Mosel-Halle in Koblenz, wo Milch in seiner Ansprache „Das Königtum des Christus“ 14 scharf formulierte Fragen an die deutschen Bischöfe richtete, die er seinem Publikum vortrug und darüber befinden ließ.

Stimme, Timbre, Akzentuierung und Redetempo Milchs erinnerten zuweilen an Dr. Joseph Goebbels; die erhaltenen Tonaufnahmen belegen dies eindringlich. Historisch gebildete Zuhörer erkennen die Parallele sofort, wobei Milch den Nationalsozialismus bedingungslos ablehnte. Eine Antwort auf seine Fragen erhielt er von keinem Bischof. In späteren Jahren fanden ähnliche Veranstaltungen meist im Konzertsaal des „Eltzer Hofs“ in Mainz statt. Seine Polemik richtete sich schließlich auch gegen Papst Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger, den späteren Papst Benedikt XVI.

1987 fand Milchs Leben ein jähes und tragisches Ende: In seiner Wohnung wurde er von dem geisteskranken 31-jährigen Italiener Luigi Zito, einem der von ihm zuvor betreuten Ausgestoßenen aus Frankfurt, mit mehreren Messerstichen und einem in die Brust gerammten Holzpfahl ermordet. Am 17. August 1987 wurde er im Beisein von rund tausend Menschen auf dem Nordfriedhof in Wiesbaden beigesetzt. Die Messe und das Requiem zelebrierte Pater Franz Schmidberger, damals Generalobere der Priesterbruderschaft St. Pius X. Der Mörder erhängte sich wenig später im Gefängnis. Die Betreuung von Milchs Gemeinde ging auf die Piusbruderschaft über.

Mit der Jahrtausendwende erfuhr Milchs Name nochmals eine gewisse Renaissance, da er aufgrund der Musiktitel von Josef Maria Klumbs Neofolk-Band „von Thronstahl“ Bestandteil der Gegenwartskultur wurde. In einem rhythmischen Techno-Stahlgewitter und Stakkato ertönt in den Stücken „Wider die Masse“ („Das Gottmenschentum“) sowie in „Pontifex Solis“ seine zugleich herrische wie mahnende Stimme. Später unternahm der deutsche Rapper Chris Ares einen ähnlichen Versuch. Glücklicherweise wurden viele von Milchs Ansprachen auf Tonband aufgenommen und verbreitet. Heute findet man viele davon auf YouTube. Seine Predigten, Schriften, Vorträge sowie Rund- und Sonntagsbriefe und weitere Tondokumente sind auf der Webseite der „Actio spes unica“ abrufbar, ebenso wie Dokumente von Dr. Gregorius D. Hesse, einem traditionalistischen Wiener Priester, der Lefebvre nahestand.

Man darf spekulieren, mit welcher Verve Milch heute gegen eine Kirche agitieren würde, in der verweltlichte Sprache, Slangbegriffe und der Verkauf von Kirchenimmobilien an der Tagesordnung sind, während die Deutschen zu Scharen austreten. Der sogenannte „synodale Weg“ der Katholiken beschleunigt diesen Zerfallsprozess. Die Entmythisierung ehemals sakrosankter Bezirke ist Alltag geworden. Der „Kampf gegen rechts“, den die Kirchenführungen devot unterstützen, sowie die teilweise Verweigerung kirchlicher Begräbnisse für AfD-Mitglieder, tragen weiter dazu bei. Die Kirche degradiert sich selbst zur Marginalie. Ohne wirkliche Umkehr werden die Kirchen an sich selbst zugrunde gehen. Für ihren Erhalt bedürfte es Priester vom unerschütterlichen Schlage eines Hans Milch.

„Ich liebe, weiß Gott, nicht den Kampf! Aber wehe mir, wenn ich nicht kämpfte!“, rief er einst aus. Hans Milch war ein letzter Aufhalter, bevor sich der Antichrist endgültig in den Tempel Gottes begibt. Er glaubte fest daran, dass Rettung kommen werde und nicht allein der drohende Untergang der Kirche, sondern auch Europas in letzter Stunde noch abgewendet würde.

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