Fichtes Roman, Fassbinders Film, selbst die Theaterstücke von Tennessee Williams oder Joe Orton (und ihre Verfilmungen) lassen sich auf einen Nenner bringen. Martin Dannecker hat ihn in einem anderen Zusammenhang so formuliert: „Wir können nicht lieben. Wir haben es von Anfang an nicht gekonnt. Wir sind auf die Liebe nicht nur schlecht, sondern überhaupt nicht vorbereitet.“
Die „Lebensunmöglichkeit“, sich an eine bestimmte Person auf Dauer zu binden – „Ich liebe dich, was geht’s dich an.“ –, verdeutlicht Fichte in seinem Roman am Beispiel einer „anderen Pubertät“. Es handelt sich um das Interview mit dem sechzigjährigen Angestellten „Rolf“, das 1972 geführt wurde. Fichte hatte Heinz Sachs, so sein wirklicher Name, 1964 kennengelernt. Da bei der Verschriftlichung die Fragen geschickt weggelassen wurden, nimmt das Interview als exemplarischer Lebenslauf den Charakter eines inneren Monologs an.
Zehn Jahre später wurde Heinz Sachs erneut befragt, die ursprüngliche Fassung erweitert und stilistisch überarbeitet. Der Text erhielt den Titel „Lustverlust. Ansichten eines alten Mannes“ und findet sich im Abschlussband 19 Hamburg Hauptbahnhof. Register seiner groß angelegten Geschichte der Empfindlichkeit.
Unter diesem Aspekt erfahren wir einiges. Eine harmonische Kindheit wird in wenigen Worten präzise wiedergegeben: „Die Eltern haben sich gut verstanden. Die ganze Familie hat zusammen gehalten ohne Zank und Streit.“ Die in der Zeit übliche „Selbstquälerei“ in der Pubertät kann er mit Hilfe des Vaters unbeschadet überstehen: „Sieh nur zu, dass du’s nicht zu häufig tust. Aber schädlich ist das nicht.“
Als Student wählte er das „geringste Übel“, nämlich in den „Stahlhelm“ einzutreten, welcher später in die SA überführt wurde. Die politische Bedeutung des sogenannten Röhmputsches hatte er „damals“ nicht erkannt. Die Aberkennung der Doktorwürde Thomas Manns, die Bücherverbrennung, die Verfolgung (und spätere Vernichtung, von der er offensichtlich wusste) der Juden führten bei ihm zu einer „negativen Einstellung zum Nazismus“. Und obwohl er „einige Zeit nach der Machtübernahme“ ein Doppelleben führte, um nicht aufzufallen, Bekanntschaften nur noch „außerhalb“ der Parks, Klappen und Lokale schloss, „junge Burschen“ nicht mehr „hemmungslos mit aufs Zimmer nahm“, wurden zwei Verfahren gegen ihn „eingeleitet wegen Paragraph eins, Heimtückegesetz“ und „wegen Paragraph 175a“. Beide Verfahren wurden „wegen Geringfügigkeit eingestellt“, sein „Assessorexamen“ allerdings konnte er nicht mehr machen. So sei er beruflich „gescheitert“ – aufgrund seiner „Veranlagung“.
Erst später habe er erfahren, „dass Leute meines Schlages mit Rosa Winkel im KZ herumlaufen würden und eventuell in der Gaskammer enden könnten.“Seine Verurteilung des Hitlerismus ist heute wie damals unmissverständlich:„Es ist ja völlig verkehrt, nur zu sagen: Hitler hat uns Straßen gebaut, Hitler hat die Arbeitslosigkeit beseitigt, auf den Straßen lag kein Papier, es war sauber, die Jugend war diszipliniert, es gab keine Kriminalität.“„Das ist ja alles ein völlig falsches Bild.“„Die Kriminalität wurde ja von oben her geübt.“
„Sie wurde ja in einem solchen Ausmaß geübt, dass jede Kriminalität, wie sie heute ist, ein Zwergendasein dagegen führt, denn die Kriminalität, die Vergasung, die Vernichtung von Millionen Menschen, sogenannten minderwertigen Volksstämmen, Kriegsgefangenen, Juden, Zigeunern und so weiter, das war ja viel furchtbarer.“Gleich zu Beginn des Interviews spricht Sachs von der „Unmöglichkeit“, sich an „eine bestimmte Person zu binden.“ Er bewundert das „Geschick“ Thomas Manns, der trotz seiner Veranlagung den „Lebensweg gemeistert hat, eine Familie“ zu gründen. Doch die Gleichschaltung war für ihn nicht realisierbar. Seine eigene Ehe war nicht an der Sexualität gescheitert:„Erektionen hatte ich ohne weiteres und es war auch nicht so, dass es mir Ekel brachte.“
Es waren vielmehr die in Veit Harlan geschilderten Absichten der „Heilung“. Seine Frau hatte ihn zu einem Psychotherapeuten „gebracht“.„Nach sieben Sitzungen hatte ich es als lächerlich empfunden und bin nicht mehr hingegangen.“„Ich hab ihm mal gesagt: Wenn Sie mich heilen würden, was ich für unmöglich halte, deshalb würde ich doch nicht zu meiner Frau zurückkehren.“Doch auch sein „Ideal, einen Freund auf Lebenszeit zu finden und mit ihm zusammenzuleben“, ließ sich nicht verwirklichen:„Wenn man mit einem öfter zusammen ist und ihm Vertrauen schon entgegenbringt, dann ist der Geschlechtsverkehr natürlich bedeutend angenehmer, nur das Überwältigende fehlt natürlich bei den späteren Malen, weil einem der Körper dann bekannt ist.“Als ein Mann von sechzig Jahren kann er rückblickend sagen:„Freundespaare im sexuell ausübenden Sinne habe ich nicht getroffen.“Schließlich bleibt nur die käufliche Sexualität übrig.