Aber bei meiner Liebe und Hoffnung beschwöre ich dich: wirf den Helden in deiner Seele nicht weg! Halte heilig deine höchste Hoffnung! — (Nietzsche, 1883)
Rahmen – Einleitung
Ziel dieses Essays ist es, die Epoche, in der wir aktuell leben, zu beschreiben und neue Perspektiven auf die gesellschaftliche Entwicklung seit der Postmoderne aufzuzeigen. Seine Grundannahme beinhaltet die Beobachtung der Metamoderne, welche unter Aneignung der nietzscheanischen Konzeption der Tragödie betrachtet werden soll. Aneignung soll hierbei im Gegensatz zu der von Paul Stephan als tot charakterisierten Metapher der Wirkungsgeschichte stehen:
“Geistesgeschichte wäre demgemäß nicht als Wirkungs- oder Beeinflussungsgeschichte zu schreiben, sondern als Geschichte kreativer Aneignungen auf der Grundlage der jeweiligen Konflikte einer Epoche.”(Stephan, 2022, S.21)
Dem will sich dieser Essay annehmen und versuchen, einen ersten Ansatzpunkt zu liefern. Dieser Essay erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder begriffliche Präzision. Meine akademische Herkunft liegt in der politischen Kommunikation, was sich an der einen oder anderen Stelle unvermeidlich bemerkbar machen wird. Ich möchte ich in erster Linie den Kern einiger meiner Überlegungen festhalten. Hierbei ist die teilweise Verwendung affektiver Sprache ein bewusstes, konzeptuell eingebundenes Stilmittel.
Der Essay soll wie das Zentrum eines Spinnennetzes kein fester, unveränderlicher Punkt sein, sondern die Möglichkeit eröffnen, ausgebaut, verändert, ergänzt, vertieft, verkleinert, konkretisiert und genutzt zu werden. Die Überlegungen sollen einen ersten theoretischen Rahmen liefern, der die grundsätzliche Idee erklärt, die zwei Schlüsselkonzepte verbindet und die möglichen Implikationen und Ansatzpunkte, sofern bereits absehbar, analysiert. Dieses Zentrum des Netzes kann daraufhin nach Belieben angepasst, erweitert oder verworfen werden, soll allerdings zunächst ein kumulativer Ausgangspunkt meiner Einflüsse und Gedanken sein. An dieser Stelle sei nochmal auf Paul Stephan verwiesen, der mit seinen zwei Einführungsbänden zum Links-Nietzscheanismus wichtige Bausteine zu meinen Überlegungen beigetragen hat:
“Wir sind nicht einfach nur Knotenpunkte in den geistigen und materiellen Fäden unserer Epoche – wir sind zugleich ihre Urheber. Und schlimmstenfalls sind wir eingesponnene Insekten, die jedoch zumindest in ihnen strampeln können. Das Projekt der Freigeisterei besteht nicht zuletzt darin, sich nicht verwirren zu lassen, und, wenn nicht Spinne zu werden, so doch zumindest ungebundenes Getier.” (Stephan, 2022, S.21)
Beginnen wir also mit dem Strampeln.
Die “Metamoderne”
Als Karl Marx sein Werk “Das Kapital” schrieb, war die Welt im Umbruch. Die industrielle Revolution hatte das Leben der Menschen verändert wie kaum ein historisches Ereignis zuvor, der Glaube an den Fortschritt war ungebrochen. Die Moderne war geprägt durch Optimismus, den Glauben an etwas Größeres, daran, die Welt wirklich verbessern zu können. Es entwickelten sich vielfältige Theoriemodelle mit dem Anspruch, die Welt und die Vorgänge in ihr möglichst umfassend zu erklären und zu einem großen Narrativ, einer verbindenden Erzählung, zu formen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich eine metaphysische Leere, ohne Möglichkeit zur Orientierung oder einen festen Ansatzpunkt. Die Postmoderne erhielt mit der Neoliberalisierung der 80er und 90er Jahre und dem Fall der Sowjetunion einen ökonomischen Radikalisierungsschub. Der feste Glaube an Fortschritt und die großen, einenden und mit Mobilisierungskraft ausgestatteten Theorien und Bewegungen, wichen einer distanzierten Ironie und einem Zynismus, der die Möglichkeit von wirklichem Fortschritt als naiv ablehnte.
Vermeulen und Van den Akker, die das Pendelmodell der Metamoderne wohl am deutlichsten geprägt haben, bringen die beiden historischen Perioden mithilfe von Jos de Mul folgendermaßen auf den Punkt:
“These positions can most appropriately be summarized, perhaps, by Jos de Mul’s distinction between postmodern irony (encompassing nihilism, sarcasm, and the distrust and deconstruction of grand narratives, the singular and the truth) and modern enthusiasm (encompassing everything from utopism to the unconditional belief in Reason).” (Vermeulen, Van den Akker, 2010)
Doch der Liberalismus stand beziehungsweise steht weiterhin, er ist der Dead-Man-Walking dieser Zeit: Eine eigentlich längst überholte Ideologie aus einem vergangenen Zeitalter klammert sich weiterhin, durch Vereinnahmung und Kommodifizierung jeglicher Kritik und Versuche der Veränderung, an seine Hegemonialstellung. Eine Maschine, die nur dem Zweck der Selbsterhaltung dient und dabei alles, was ihr im Weg steht, in Treibstoff umwandelt, um neuen Treibstoff zu finden, weiter zu wachsen und neue Zahnräder einzubauen und die maschinellen Abläufe noch effizienter zu gestalten.
Dieser aus der Zeit gefallene Dead-Man und seine Wirkweisen bleiben nicht ohne Folgen. Zu Beginn traten die Auswirkungen noch nicht so deutlich zu Tage wie heute, doch spätestens seit den 1990ern und der Finanzkrise 2008 werden sie, zumindest formal, im breiteren gesellschaftlichen Diskurs aufgegriffen. Dieser Umstand treibt Kräfte nach oben, die diese Defizite erkannt und auf ihren Moment gewartet haben.
Dieser Ausgangspunkt führt uns zur Metamoderne. Der Begriff beschreibt eine historische Periode, zeitlich nach Moderne und Postmoderne und ontologisch zwischen besagten Phasen. (vgl. Vermeulen, Van den Akker, 2010) Faschistische Kräfte haben sich längst, ob bewusst oder nicht, an dieses neue Zeitalter und seine duale Natur angepasst. Die Probleme und Einschränkungen, den Zeitgeist während seines Werdens zu darzustellen, liegen auf der Hand. Nichtsdestotrotz soll in diesem Essay zumindest der Versuch unternommen werden.
Zunächst ein wenig Kontext. Das Modell ist vergleichsweise neu und noch gibt es wenig empirische Forschung diesbezüglich. Aktuelle theoretische Vorgehensweisen, beispielsweise der strategischen Kommunikation, stützen sich fast ausschließlich auf eines von zwei Frameworks, die sich nach Einstellungen und Merkmalen ihrer jeweiligen Zeit richten. Je nachdem, an welches man sich hält, enthalten sie in kommunikatives Eisen gegossene Ansichten und daraus resultierende Strategien ihres Zeitalters. Aktuell bestehen diese überwiegend aus ironischer Distanziertheit, Abgeklärtheit und einem nüchternen Realismus, der besonderen Wert auf Differenzierung und Perspektivenvielfalt legt und sich auf Stakeholder-Relations und Bindungsaufbau konzentriert. Welcher Krawattenknoten wirkt am seriösesten und wie überbringt man der Öffentlichkeit die Nachricht der eigenen, durch komplexe, international verwobene Strukturen eigentlich sehr beschränkten Handlungsentscheidung?
Der Unwille zu Affekt und Pathos hat Struktur. Durch die Verheerungen des 20. Jahrhunderts und seinen übergreifenden narrativen und den damit einhergehenden materiellen und menschlichen Schäden, sehnte sich die (westliche) Welt nach Ruhe, Sicherheit und Ausgewogenheit. Lieber weniger versprechen als zu viel, alles andere hätte unseriös wirken können. Diesen impotenten Zustand griff Mark Fisher in seinem Werk “Capitalist Realism: Is there no Alternative?” auf. Durch seine Untersuchung popkultureller Werke arbeitet er einen kulturellen und menschlichen Kreativitätsverlust heraus und die damit einhergehende deprimierende Desillusionierung. Bereits die Vorstellung einer emanzipierteren Gesellschaft als die Heutige scheint im Wortsinne unmöglich. Kunst und Kultur spiegeln nicht nur Gesellschaften, sondern befruchten sie auch, sie befinden sich in einem ständigen Wechselverhältnis. Fisher zeigt präzise auf, wie kulturelle Erzeugnisse von einer bisher noch nicht dagewesenen Perspektivlosigkeit zeugen. Das Phänomen des Capitalist Realism lässt als ein Kulminationspunkt der Postmoderne bezeichnen, der wie eine bleierne Decke die alles Neue, Kreative und Schaffende durch vermeintliche Unmöglichkeiten, Zwänge und Alternativlosigkeiten im Keim erstickt oder es zumindest versucht. Fisher selbst nennt den Capitalist Realism im selben Atemzug mit der besagter historischen Periode, als eine Art Verabsolutierung und weiterführende Transformation ihrer Logik:
“Fukuyamas Position verhält sich in gewisser Weise spiegelbildlich zu Fredric Jamesons These, wonach der Postmodernismus die »kulturelle Logik des Spätkapitalismus« (Jameson 1986) darstellt. (…) Was ich als »kapitalistischer Realismus« bezeichne, kann man durchaus als ein Teil dessen beschreiben, was Jameson »Postmodernismus« nennt. Aber trotz Jamesons heroischer Begriffsarbeit bleibt der Begriff des »Postmodernismus« umkämpft, seine Bedeutung ist fluktuierend, vielschichtig und insofern zwar sachgerecht, aber nicht sonderlich hilfreich. Wichtiger als dies scheint mir aber zu sein, dass sich einige der von Jameson beschriebenen und analysierten Prozesse heute verschärft haben und dermaßen chronisch geworden sind, dass sie sich dadurch verändert haben.” (Fisher, 2012, S.13f)
Man wird trotz der treffenden Analyse Fishers feststellen, dass diese kulturellen Merkmale heute in Reinform nicht mehr vorzufinden sind. Capitalist Realism erschien Ende der 2000er Jahre, vieles hat sich seit diesem Zeitpunkt verändert:
“The postmodern years of plenty, pastiche, and parataxis are over. In fact, if we are to believe the many academics, critics, and pundits whose books and essays describe the decline and demise of the postmodern, they have been over for quite a while now. (…) As Linda Hutcheon puts it, in the epilogue to the second edition of The Politics of Postmodernity: ‘‘Let’s just say it: it’s over.” (Vermeulen, Van den Akker, 2010)
Seitdem hat sich politisch viel bewegt, am wichtigsten hierbei ist wohl der Aufstieg rechtspopulistischer und seit den 2020er Jahren vermehrt faschistischer Regime, Parteien und Bewegungen, aber auch andere krisenhafte Erscheinungen wie das Klima oder vermehrte Angriffskriege sind entscheidende Faktoren. In diesen Kontexten erkennt man keine einschläfernde Differenzierungsmanie mehr. Die Menschen wollen wieder große Reden hören, große Männer sehen, einen Sinn verspüren. Sie wollen eine gesamtgesellschaftliche Sinnstiftung, etwas, das über den Konsum und den Genuss hinausgeht, hinausgeht über das „Hocharbeiten“, um ein Haus kaufen zu können und in den Urlaub zu fliegen. Der Liberalismus konnte seine Versprechen nicht halten, die Welt wurde durch Handel nicht immer freier, wir alle nicht immer wohlhabender. Der Glaube an die Erzählung des kapitalistischen Fortschritts ist gefallen, der letzte Riese der Moderne steht nicht mehr aufrecht wie zuvor. So tragen sowohl die systeminhärenten Fehler zu seiner schwindenden Strahlkraft bei, als auch äußere Faktoren, die am Ende denkbarerweise doch wieder mit seinen Widersprüchen verbunden sind. Ein besonders auffälliges Symptom hierbei stellt die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche dar. Ob es die Beziehung ist, Sex, Freundschaft, Kollegen, psychische Gesundheit, gesellschaftlicher Erfolg, zwischenmenschliche Kommunikation, Kunst, Kultur, die Akademie. Nichts kann sich der Logik in Gänze entziehen. Während die Entscheidungen für unsere heutige spezifische wirtschaftliche Ausrichtung in den 70er und 80er Jahren gefallen sind, werden ihre Auswirkungen erst heute in letzter Konsequenz spürbar. Heute finden zwischenmenschliche Kommunikation und Beziehungen zu einem bedeutenden Anteil in einem dauerhaft von Big-Tech bereitgestellten Raum statt, dessen Logik ausschließlich dem Profitinteresse folgt.
Dementsprechend stellen sich die Menschen wieder vermehrt Sinn und Identitätsfragen, die Merkmale des von Fisher charakterisierten Zeitabschnitts sind allerdings nicht komplett verschwunden und können nicht einfach “rückgängig” gemacht werden. Das entscheidende Merkmal dieser neuen Zeit ist also die Oszillation zwischen dem unbändigen Wunsch nach Sinnstiftung und Identifikation einerseits, und Ironie in Verbindung der Einstellung, tatsächliche Veränderung sei nicht mehr im Bereich des Möglichen, andererseits.
“Ontologically, metamodernism oscillates between the modern and the postmodern. It oscillates between a modern enthusiasm and a postmodern irony, between hope and melancholy, between naiveté and knowingness, empathy and apathy, unity and plurality, totality and fragmentation, purity and ambiguity. Indeed, by oscillating to and fro or back and forth, the metamodern negotiates between the modern and the postmodern.” (Vermeulen, Van den Akker, 2010)
Das Pendel
In seinem Werk “Die Geburt der Tragödie” konzipiert Nietzsche einen Balanceakt: Die Synthese des Dionysischen, der Ausschweifung und des Rausches und des Apollinischen, der Vernunft und des Maßes.
“Er geht dort zunächst von einem Antagonismus der beiden Prinzipien des Dionysischen – Dionysos war der griechische Gott der Ausschweifung, aber auch des Theaters – und des Apollonischen – Apoll war der Gott der Vernunft, des Maßes und des Lichtes – aus.” (Stephan, 2022, S.105)
Einen Entwurf, den Nietzsche in der antiken Tragödie synthetisiert sieht. Ein Zusammenwirken beider vermeintlichen Antagonismen in einem “Bruderbund”. (Nietzsche, 2012, S.141) Diese Konzeption soll durch eine metamoderne Perspektive angeeignet werden.
Um besagte Perspektive mit dem Dualismus der Tragödie zu verbinden, ist die Metapher des Pendels eine Schlüsselfigur. Wie dieses oszilliert das Subjekt in der Metamoderne zwischen zwei Polen, immer in Bewegung als Spielball physikalischer Kräfte. Die jeweiligen Extreme repräsentieren hierbei keine Ziele im eigentlichen Sinne, sondern lediglich einzelne Momente der Bewegung und nehmen dementsprechend keine Sonderstellung gegenüber anderen kurzzeitigen Standortsbestimmungen der Pendelspitze ein. Den postmodernen Ausschlagspunkt stellt das apollinische Prinzip dar, während der moderne Pol das dionysische Prinzip repräsentiert. Man bedenke, dass diese Zuordnung keine in ihren Grundsätzen absolute oder deckungsgleiche ist oder sein soll. Die Assoziation der historischen Perioden mit den jeweiligen Prinzipien soll die instrumentelle Möglichkeiten eröffnen, die Dimensionen der jeweiligen Epochen, die für eine metamoderne Aneignung relevant sind, herausarbeiten zu können. Die Assoziation soll einer Destillation der beiden Zeitalter dienen, welche es erlaubt, die ontologisch entscheidenden Aspekte und Merkmale der zwei Phasen sichtbar zu machen und das Destillat von unwichtigen Nebenerzeugnissen zu trennen.
“If the modern thus expresses itself by way of a utopic syntaxis, and the postmodern expresses itself by means of a dystopic parataxis, the metamodern, it appears, exposes itself through a-topic metaxis.” (Vermeulen, Van den Akker, 2010)
Ein Einwand bezüglich der Überlegungen könnte lauten, dass der dionysische Gedanke nicht in eine von vielen damaligen Denkern und Autoren als zu rationalistisch bezeichnete geschichtlichen Phase der Moderne passen würde, dass dies ein Gegensatz sei. Hier ließe sich entgegenhalten, dass diese trotz aller Rationalisierung noch die Gewissheit hegte, durch diese Rationalisierungen einen tieferen historischen oder anderweitigen sinnstiftenden Impuls zutage zu fördern. Dieses Merkmal, die Aufdeckung und Findung von Sinn und die damit verbundene Zuversicht spiegeln den dionysischen Charakter dieser Zeit wider. Fraglicherweise geht es heute nicht mehr um eine Sinnfindung, sondern um eine eigenständige Sinnsetzung. Der Glaube an eine Utopie wird durch die Dekonstruktionen durch poststrukturalistische Ansätze dionysisch, der reine Akt der Imagination ist bereits Rebellion und dionysischer, spielerischer, rauschhafter Drang, in einer visionslosen und vermeintlich alternativlosen Postmoderne. Diese wiederum stellt sich als Apollinisch dar, da sie durch den Prozess einer analytischen Rationalisierung versucht, möglichst alle unterschiedlichen Einzelperspektiven in ihre Schlüsse einzubinden und beispielsweise mithilfe intersektionalistischer Ansätze miteinander zu verbinden und letztendlich zu quantifizieren.
Die Existenz des Pendels ist ständige Bewegung, es Wird immer aber Ist nie, zumindest nicht dauerhaft. Aufgrund eines ursprünglichen Impulses beliebiger Art kämpft es dauerhaft gegen die physikalischen Kräfte, bewegt sich, Wird. Es kämpft um Synthese, also um Ausgleich und um die Balance der wirkenden Kräfte. Es lässt sich nie, ohne die Gesamtheit auszublenden, länger als einen Augenblick an einem konkreten Punkt festhalten. Trotzdem Ist es, zu jedem kontextlosen Zeitpunkt, in dem ein Schnappschuss eine Position festhält, also eine zeitlich stark begrenzte Positionsbestimmung, verortbar an einem konkreten Punkt im Raum. Ähnlich verhält es sich mit Subjekten in der Metamoderne, die durch die gesamtheitliche Bewegung, vor der Unmöglichkeit stehen, alles an einem Punkt festhalten zu können. Hierbei sind die jeweils einzelnen Schnappschüsse kein Ausdruck relativistischer Beliebigkeit, sondern vollkommen und bis auf den Kern ernst zu nehmen. Das Pendel bewegt sich und zu einem bestimmten Zeitpunkt schlägt es in die Richtung einer Seite aus. Diese Positionsbestimmung Ist genauso, wie der entgegengesetzte Ausschlag. Es repräsentiert somit einen dauerhaften Werdensprozess, in dem jeder Schnappschuss des Seins, genauso real ist, wie der gesamtheitliche Prozess des Werdens an sich. Die Oszillation verabsolutiert weder den einen noch den anderen Pol, meint ihn im Moment des Erlebens aber vollständig und eindeutig ernst, sei es nun Pathos und Affekt oder Ironie und Nihilismus. Die Metamoderne erfordert also, in einer gewissen Unschärferelation denken, fühlen und wahrnehmen zu können. Vermeulen und Van den Akker erklären das Konzept in Form einer “Both-Neither”-Dynamik:
“One should be careful not to think of this oscillation as a balance however; rather, it is a pendulum swinging between 2, 3, 5, 10, innumerable poles. Each time the metamodern enthusiasm swings toward fanaticism, gravity pulls it back toward irony; the moment its irony sways toward apathy, gravity pulls it back toward enthusiasm. Both the metamodern epistemology (as if) and its ontology (between) should thus be conceived of as a ‘‘both-neither’’ dynamic. They are each at once modern and postmodern and neither of them.” (Vermeulen, Van den Akker, 2010)
Ein Gleichgewicht der Kräfte zu finden ist also unmöglich, Subjekte in der Metamoderne werden in dieser Hinsicht Spielball physikalischer Kräfte und müssen dennoch jeden Schnappschuss so ernst nehmen, als wäre er die angestrebte Synthese. Diese Oszillation unterscheidet sich von dem von Nietzsche beschriebenen “Bruderbund” in der griechischen Tragödie, insofern, dass der Idealzustand der Synthese nie tatsächlich erreicht werden kann. Sie bleibt ewiger und unerreichbarer Idealpunkt.
“Metamodernism displaces the parameters of the present with those of a future presence that is futureless; and it displaces the boundaries of our place with those of a surreal place that is placeless. For indeed, that is the ‘‘destiny’’ of the metamodern wo/man: to pursue a horizon that is forever receding.” (Vermeulen, Van den Akker, 2010)
Der gegenwärtige Zeitgeist kennzeichnet sich dementsprechend maßgeblich dadurch, dass das Subjekt wieder damit beginnt, neue Horizonte entdecken zu wollen, auch wenn sie unerreichbar sind. Dies soll, wie zu Beginn erwähnt, ein erstes Festhalten des Gedankens sein und lässt sich sowohl in die Breite als auch in die Tiefe erweitern und vertiefen. Die Befestigung des Pendels wäre hierbei ein zentraler, noch nicht konkretisierter Aspekt. Wenn man die ausgeführte Epochenbeschreibung als Ergebnis multipler Krisen betrachtet, könnte man die Interpretation der Befestigung als kapitalistischer Produktionsmodus verfolgen. Hierfür spricht der starke Zusammenhang zwischen den auftretenden Krisen und der eskalierenden Verwertungslogik, die zunehmend alle Lebensbereiche durchdringt.
Alles Shizo/Nichts Shizo – Mythos
“Vom Standpunkt der sozialen Ordnung aus betrachtet, ist die Konfrontation mit dem Dionysischen eine trennende Erfahrung, doch primär bezeichnet es eine tiefgreifende Einheitserfahrung. (…) Die Kunst dient beim frühen Nietzsche natürlich dazu, diese Einheitserfahrung gerade nicht politisch oder sonst wie praktisch werden zu lassen. (…) Doch sie wird nicht geleugnet und es ist nicht verwunderlich, dass zahlreiche linke Interpreten, wie insbesondere Georges Bataille versuchten, aus Nietzsche eine Art Links-Dionysmus zu extrahieren.” (Stephan, 2022, S.107)
Bataille stellt einen wichtigen Bezugspunkt für die dionysische Assoziation des modernen Pols des Modells dar. Konkret sei hier beispielhaft auf sein Essay “Die psychologische Struktur des Faschismus” verwiesen . In diesem entwickelt er den Gedanken, dass der Faschismus nur durch einen Einbezug des Affekts und dem Begehren nach, beziehungsweise der Notwendigkeit von, Heterogenität verstanden werden kann. Dadurch bietet Bataille ein Faschismusverständnis, das die affektive Ebene mit einbezieht und über den Tellerrand der materialistischen Analyse hinausblickt. Faschismus wirkt entscheidend durch Gewalt, Spannung und kollektive Bindung, die sich als unterbewusstes Heterogenes formieren und sich durch die inhärenten Widersprüche der homogenen Gesellschaft in der Form eines “Kults der Reinheit“ gesamtgesellschaftlich Bahn brechen. (vgl. Stephan 2020 S.376f)
“Further, it can be stated that, even though it generally occurs in the blindest fashion, the development of heterogeneous forces necessarily comes to signify a solution to the problem posed by the contradictions of homogeneity.” (Bataille, 1979, S.84)
Sein Gegenmodell beinhaltet eine Art Links-Dionysmus, der eine heterogene Alternative zu den faschistischen Mythen und dem Wunsch nach Heterogenität abbildet. Letzterer soll dabei wieder in eine revolutionäre Bahn gelenkt werden. (vgl. Stephan 2020 S.376f) Ohne die affektive, mythische Ebene sei das Phänomen Faschismus nicht in seiner Gänze zu begreifen. Batailles Faschismusverständnis könnte durch die dionysischen Bezüge metamodern erweitert werden, zu einem noch differenzierteren Verständnis des Faschismus führen und aufzeigen was Politik in dieser Zeit bedeutet.

Pendelmodell Visualisierung
Weiterführend interessant ist eine Betrachtung des Modells und des Werdens unter dem Gesichtspunkt der Werke von Deleuze und Guattari. In diesen wird das Konzept des Subjekts an sich in seinem bisherigen Verständnis dekonstruiert. Dieses sei lediglich Ausdruck einer gewaltsamen Reterritorialisierung die als Mittel zum Zwecke der (Re-)Produktion gesellschaftlicher Machtströme diene.
“The various semiotic registers that combine to engender subjectivity do not maintain obligatory hierarchical relations fixed for all time. (…) Subjectivity is in fact plural and polyphonic – (…) It recognises no dominant or determinant instance guiding all other forms according to a univocal causality.” (Guattari, 1995, S.1)
Es gebe somit keinen festen eigentlichen Kern des vermeintlichen Subjekts. Dieses Verständnis des Subjekts als energetische Membran für gesellschaftliche Machtströme, deren Verhältnis und Positionierung sich in fluider Weise konstant ändert und neu organisiert, scheint anknüpfungsfähig in Hinsicht auf die Pendelbewegung zu sein. Die dauerhafte unüberwindbare Fluidität, ständiges Werden, findet sich als zentrales Merkmal sowohl in den hier ausgeführten Überlegungen, als auch in den Überlegungen von Deleuze und Guattari. Auch in diesem Zusammenhang lässt sich von einer Unschärferelation des Subjekts sprechen. Auch der von mir verwendete Begriff Shizo ist ihren Werken entlehnt.
Hierbei lohnt ein Verweis auf den knappen Exkurs bezüglich der Pendelbefestigung. Das Modell spricht für die Erkenntnis, dass mindestens ein Teil von Deleuzes und Guattaris Überlegungen vom System bereits vereinnahmt wurden, dies ebenfalls eine mögliche Interpretation von Deleuzes Überlegungen in “Postskriptum”. (vgl. Stephan 2020 S.431f) Auch dies spricht für den Zusammenhang zwischen dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Produktionsmodus und der Metamoderne.
Wie auch während des Übergangs von Moderne zu Postmoderne, können Feststellungen über die aktuelle Epoche tiefgreifende Implikationen für Gesellschaft, Denken und politische Gestaltung mit sich bringen. Wie bereits Yves Citton in “Mythocracy” hervorragend beleuchtete, spielen Mythen eine Schlüsselrolle für das heutige Verständnis von Macht, Politik und Kommunikation. Wer heute Politik gestalten will, muss die Wirkmächtigkeit und Notwendigkeit von Mythos und Affekt verinnerlichen.
“For we do not again need to look for a coherent, all-embracing system of ideas, firmly rooted in conceptual rigour and able to reassure doubters by claiming to have an answer for everything (an ideology). Rather, what we need is a motley assemblage of fragmentary images, dubious metaphors, questionable interpretations, vague intuitions, obscure feelings, mad hopes, out-of-frame narratives, and interrupted myths. These would together take on the consistency of an imaginary – not so much because of their logical coherence as because of the interplay of shared resonances which, in cutting across all their varieties, bolster each of them in its singular fragility.” (Citton, 2025, S.6)
Conclusio
Nach der groben Skizzierung des Modells, der Schnappschüsse, des Seins, des Werdens, der Unschärferelation, und der Bedeutung von Mythen, sollen erste angedeutete Implikationen festgehalten werden. Ein Schluss lässt sich bereits jetzt aus all dem ziehen: Die Tagespolitik ist in jeder Hinsicht zu steril und angepasst an postmoderne Logiken und Anforderungen. Der Populismus war der erste Vorbote einer Welt, die sich nicht mehr nur um die vernünftigste Position streitet, sondern um die, die einen selbst affektiv anspricht und nach den Verwerfungen und Unsicherheiten, den Krisen der letzten Jahre es wieder vermag, Sinn durch Gewissheiten und Utopien zu stiften. Politik darf nicht nur über abstrakte Argumente, sondern muss auch über gelebte Bilder und Erzählungen vermittelt werden. Anstelle der Thematisierung abstrakter, allgemeiner Ziele, werden im Gegenteil, Mythos und Affekt eine zentrale Rolle einnehmen.
Der Aufruf für eine affektivere Sprache in der Politik gründet sich nicht auf der Unterstellung, Menschen würden grundsätzlich abstraktere Argumentationen nicht verstehen oder verstehen wollen. Es geht um ein ganzheitlicheres Verständnis für den Menschen als Wesen, der eben keine einfache Logik- und Konsummaschine, sondern emotional, mehrdimensional und vor allem widersprüchlich ist. Es könnten sich also absehbar kommunikative und politische Erkenntnisse aus dem Modell ableiten lassen.
Zum Ende soll noch ein konkretes Beispiel metamoderner politischer Kommunikation genannt werden, das einen tagespolitischen Bezugspunkt für die abstrakten Ausführungen liefern soll. Der Twitter Account des Weißen Hauses veröffentlichte Anfang des Jahres 2025 ein im ASMR-Stil gehaltenes Video eines Abschiebefluges. In diesem Beitrag findet eine emblematische Oszillation zwischen den zwei Polen statt, einerseits durch die ironische Distanz mithilfe der Verwendung eines Online-Trends im Kontext einer offiziellen Institution und andererseits durch die ohne Zweifel ernsthafte “Umsetzung” des Mythos: Make America Great Again. Der Beitrag stellt sich als todernst und gleichzeitig als Scherz dar, es ist beides und keines von beiden gleichzeitig und somit ein anschauliches Beispiel für die beschriebenen Überlegungen. Liberale sowie linke und emanzipatorische Kräfte hinken den populistischen und faschistischen Bestrebungen in dieser Hinsicht weit hinterher. Wer diese längst geschehene “Zeitenwende” nicht Politikern wie Trump und damit seinen Zielen und Vorstellungen überlassen möchte, muss unsere Zeit verstehen lernen und darf sein eigenes Handeln nicht mehr an der Vergangenheit, sondern muss es an der Gegenwart und Zukunft ausrichten. Die Politik muss Shizo-Werden, unsere Epoche ist es bereits.
Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. (Nietzsche, 1889)
Literaturverzeichnis
Bataille, George & Lovitt Carl L.: The Psychological Structure of Fascism. New German Critique. No.16. (Winter 1979). S.64-87. S.84.
Citton, Yves: Mythocracy. How Stories Shape Our Worlds.Verso. London; New York. 2025. S.6.
Fisher, Mark: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift. VSA Verlag. Hamburg. 2013. S.13f.
Guattari, Félix: Chaosmosis. An ethico-aesthetic paradigm. Indiana University Press. Bloomington & Indianapolis. 1995. S.1.
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Band 1. Vom Baum am Berge In: Digitale kritische Gesamtausgabe. (1). 1883.
Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Anaconda Verlag GmbH. Köln. 2012. S.141.
Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo. Warum ich ein Schicksal bin. In: Digitale kritische Gesamtausgabe. §1. 1889.
Stephan, Paul: Links-Nietzscheanismus. Band 1. Nietzsche selbst. Eine Einführung. Schmetterling Verlag GmbH. Stuttgart. 2. Auflage. 2022
Stephan, Paul: Links-Nietzscheanismus. Band 2. Aneignungen Nietzsches. Eine Einführung. Schmetterling Verlag GmbH. Stuttgart. 1. Auflage. 2020.
Vermeulen, Timotheus & Van den Akker, Robin: Notes on Metamodernism. Journal of Aesthetics & Culture. 2:1. 5677. 2010.