Ein idealer Gast

Ein idealer Gast sollte eine Maske tragen, die real ist, eine Maske, die um keinen Preis der Welt entfernt werden kann.

Dorthin werden sie nicht mehr kommen, die alten Männer mit den geschliffenen Manieren.

-Ezra Pound

Das Hotel bot in der Stadt nie zuvor gekannte Annehmlichkeiten. Die Angestellten waren nicht nur höflich, sondern überschlugen sich dermaßen vor Freundlichkeit, dass sie oftmals den Gästen ein Essen oder die Benutzung des Swimmingpools nicht berechneten. In diesem Geiste trugen sie das Anliegen an mich heran, ob ich nicht der ideale Gast sein wolle.

Als idealer Gast müsste ich jede Woche etwas Zeit im Café verbringen und dabei auffällig mit den Angestellten des Hotels und anderen Gästen interagieren; etwas, was ich ohnehin gerne tat. Es gab ihrerseits keine Kleidungsvorschrift, sie hielten mich jedoch dazu an, mich weder zu schick noch zu langweilig und dröge zu kleiden. Sie sagten mir, ich solle meine Flirts mit den Kellnerinnen in einem gesunden Rahmen halten: Nicht zu überwältigend unverblümt, aber gleichermaßen nicht bar sexueller Untertöne – vor allem, was Komplimente bezüglich deren Kleidung anbelangt.

Natürlich würde ich Speisen oder andere Dienstleistungen nicht bezahlen müssen, aber mir wurde empfohlen, nichts à la carte zu bestellen, da ich ja distinguiert erscheinen müsse; die Vorstellung davon, wie ich an einer Tasse Darjeeling Tee nippte, war ihnen lieber als die, wie ich ein Club Sandwich herunterschlang. Sie ermutigten das Tragen von Rollkragenpullovern, ein paar Bartstoppeln im Gesicht und teilergrautem Haar. 

An Tagen, an denen die Stimmung des Hotels immer gedrückter zu werden schien und wann immer die Angestellten viel zu viele schlecht gekleidete, brüske Gäste empfangen hatten, wurde ich von der Rezeption gerufen, um meine Präsenz geltend zu machen. Kurz darauf lächelte ich einige Gäste, die etwas kultivierter zu sein schienen im Café an und bedachte gelegentlich jene, die unnötig laut waren, die einander anrempelten oder einen Videoanruf tätigten, während ich mit dem Versuch, einen Roman fertig zu lesen, beschäftigt war, mit einem herablassenden Blick.

Ich trug häufig blau, da die kühlen Töne sanft die Augen umschmeicheln. Ein idealer Gast, so sagten sie, solle mit der Hotelumgebung verschmelzen. Am Morgen solle er zum Frühstück auftauchen und zuerst ein Croissant und eine Tasse Lapsang Tee nebst der Zeitung ordern. Ich lese nicht gerne Zeitung, also widme ich mich für gewöhnlich einem Roman oder sogar einem Kinderbuch.
Allerdings lasse ich mich häufig viel zu leicht irritieren und starre statt zu lesen die kindischen Kunstwerke an den Wänden an. Um mich abzulenken, bestelle ich anstelle des Lapsang die Teemischung des Hauses, bestehend aus Assam und Darjeeling Blättern, die ein einzigartiges, leicht süßliches Aroma hervorbringt, das ich nie wirklich mit Zucker unterstreichen muss.
Meistens bin ich von einer Heerschar von Kellnern und Kellnerinnen umgeben, die alle auf ihre je eigene Art und Weise versuchen, es ihrem idealen Gast recht zu machen. Auch wenn man den Tee nur im Hotel bestellen kann, arrangieren es die Angestellten häufig für mich, dass dieser zu mir nach Hause geliefert wird.

Der Rezeptionist sagte mir einst, dass den idealen Gast auszumachen gar nicht so einfach gewesen sei; sogar ein recht mühsamer Prozess gewesen war. Da ich immerhin nur ein Autor, Lehrer und gescheiterter Verleger bin, sind meine Ausgaben im Hotel nicht zu vergleichen mit denen jener Personen, die wirklich wohlhabend sind; die Kriterien zur Entscheidungsfindung, wer denn der ideale Gast sein werden sollte, fußten somit nicht auf der Häufigkeit von Hotelbesuchen, sondern darin, inwiefern der Gast sich in den Augen der Hotelangestellten wohl in seiner eigenen Haut fühle.
Der Rezeptionist fügte an, dass ein hervorstechendes Merkmal die beinahe ungebührliche Detailverliebtheit sei, die ich einem jeden Aspekt meiner Bekleidung zukommen lasse. Er sagte, die Angestellten des Hotels hätten bemerkt, dass an keinem einzigen Tag auch nur ein einziges meiner Kleidungsstücke nicht zu den anderen gepasst habe.

Sie hätten ebenso bemerkt, wie er nicht zu erwähnen vergaß, dass mein Parfüm nach Leder rieche und mir so eine maskuline Persona verleihe, dabei jedoch nie ungalant wirke. Obwohl ich kein berühmter Autor bin, führten sie meine Bücher in den Regalen des Cafés, in dem ich nun meine müßigen Stunden verbringe. Nichts ist so behaglich wie der Komfort eines vornehmen Hotels und nichts so beschwingend, wie dort ein idealer Gast zu sein.
Ich frage mich nur, wie ein idealer Gast altert?
Würde man ihn noch als „ideal“ betrachten, wenn sein gutes Aussehen dahinschwindet? Würde das Hotel Anzeichen des Alterungsprozesses gutheißen, akzeptieren? Würde ein idealer Gast im Hotel sterben, bei einem seiner Aufenthalte im Café?

Manchmal brachte ich meine Mutter mit, die, hätte sie in derselben Stadt wie ich gewohnt, noch idealer als ich gewesen wäre, da sie wenngleich ich etwas von ihrem Charme und ihrem Stilgefühl bezüglich Kleidung geerbt hatte, als Person sanfter und beständiger ist, während ich launisch sein kann und oftmals ohne Vorwarnung meine Fassung verliere. Wenn meine Mutter mit mir zu Tisch sitzt, kann man uns nur allzu leicht für die Eigentümer des Hotels halten. Was wir jedoch gemein haben, ist die Freude daran, der Nervenkitzel Geld zu verschleudern, sobald wir es in die Finger bekommen. Wir kaufen einander Geschenke in Form von Kleidung und Kuchen, und wenngleich wir in Habitus und Duktus wie die Besitzer des Hotels erscheinen mögen, so sind wir meist doch völlig mittellos.

Einst fragte mich die Hoteldirektion, ob ich nicht die Premiere meines neuen Buches über Kleidung in der gerade fertig gestellten Lounge des Hotels feiern wolle. Sie sagten, es sei nur angemessen, wenn dem idealen Gast eine zentrale Rolle bei der Eröffnung zukäme.
In all diesen Jahren, in denen ich das Hotel besuchte, lernte ich nahezu alle Mitglieder der Belegschaft persönlich kennen. Ich kannte die Namen ihrer Ehefrauen, ihrer Geliebten, ihrer Kinder. Sie pflegten oft zu sagen, dass sie noch nie zuvor einen Gast wie mich gesehen hätten.
Das Hotel wurde zu einem Zufluchtsort, erlangte eine schier spirituelle Dimension.
Offenbar wurde Innenbereiche wie Innenausstattung einem Klosterstift nachempfunden, was die unmäßig langen Korridore sowie die dem Hotel inhärenten Qualitäten von Ruhe und Frieden erklärt. Das Schwimmbecken und der von Kampfer- und Lavendelduft durchdrungene Spa-Bereich beruhigen meine Nerven, und mit ein paar wenigen Ausnahmen ist das Hotel für alle Sinne, selbst für den Tastsinn, ästhetisch ansprechend.

Als idealer Gast sollte ich, wie ich glaube, ebenso Facetten meines Lebens teilen, die in keinerlei Relation zu meiner Existenz als Gast stehen, sondern vielmehr zu der als gewöhnlichem Menschen jenseits der Mauern des Hotels. Es besteht keine Notwendigkeit, explizit zu erwähnen, dass ich, da ich meine ganzen Rücklagen für Kleidung und Parfüm ausgegeben habe, tatsächlich ziemlich arm bin und im Gegensatz zu anderen Gästen zu Fuß oder in einer motorisierten Rikscha an den Toren des Hotels ankomme.

Ich mache keine Anstalten, meine spärlichen finanziellen Mittel vor der Belegschaft des Hotels zu verbergen; ich glaube, es gelingt mir irgendwie sie von meinem Stand, meiner Weltgewandtheit, mittels meiner Mehrsprachigkeit, zu überzeugen, und, dies sei nur am Rande erwähnt: Ich erzähle ihnen auch häufiger von der Aristokratie des Geistes, einer Form des Adels, die zwar den alten Wohlstand eingebüßt, jedoch dabei nicht eine gewisse Geisteshaltung verloren hatte.
Um ehrlich zu sein, bin ich im Großen und Ganzen mittellos, ein bestenfalls selbst ernannter Aristokrat, dessen Familienchronik weder von verlorenem Reichtum noch von hohem Stand kündet. 

Ich lernte Fremdsprachen in Sprachenschulen, ohne das Geld für Reisen zu haben, und meine englische, deutsche, italienische und Urdu-Aussprache ist in Gesprächen mit anderen Gästen im Hotel aufgrund meiner Theatererfahrung makellos.

Ein idealer Gast müsse laut der Hoteldirektion kein hochgelehrter Philosoph sein; viel wichtiger wäre es, dass dieser ein gewitzter Rhetoriker, ein Redner mit einer tiefen, wohlklingen Stimme sei, ja vielleicht sogar noch besser: ein Schriftsteller, der mit der gleichen Leidenschaft blanke Bögen Papier mit linguistischen Zeichen bedeckt, mit der er sich auch selbst kleidet.
Ich habe ein oberflächliches Halbwissen bezüglich Geschichte und weiß, in welchem Kontext ich einen Namen beiläufig erwähnen muss und wie ich meine Präsenz gemäß den Anforderungen des Anlasses anpasse.
Allerdings bin ich kein Blender und glaube, in meinem tiefsten Inneren höchst emotional zu sein. Der Grund, weswegen die Welt des Luxus, diese Welt des Hotels, so eine Anziehungskraft auf mich ausübt, ist, dass in dieser meist nahezu nichts schief gehen kann.
Vielleicht ist ein Hotel einer jener Orte, der stets angenehm, behaglich ist.
Vielleicht bittet mich dereinst das Hotel, dauerhaft einzuziehen.
Ich würde nur zu gerne innerhalb der Mauern eines Grand Hotels wohnen, nur gelegentlich kurz fortgehen, um dann stets zurückzukehren. Die Temperatur im Hotel ist ideal, und wer würde schon die ganze Zeit das Elend draußen sehen wollen?

Einer der Kellner merkte einmal an, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass ich aufgrund meiner Selbstwahrnehmung als idealer Gast erwählt worden war. Er sagte, dass ich wie eine jener Personen erschien, die selbst die Farbe der Unterwäsche sorgsam wählen und die sich selbst, wenn sonst niemand da ist, um sie anzusehen, im eigenen Schlafzimmer, elegant kleiden. Der Kellner postulierte, dass ich sehr stolz auf mich sein müsse und deswegen so viel Selbstvertrauen ausstrahle.
Ich frage mich jedoch, ob ich nicht nur meine Oberflächen hege und pflege, ob ich tief im Inneren genauso gut gekleidet bin, wie es mein Äußeres ist.
Ehrlich gesagt, glaube ich nicht an derartige Dichotomien.
In diesem Sinne ist ein idealer Gast eine Art Silhouette, eine Erscheinung.

Ich habe bereits Verhandlungen und Gespräche mit dem neuen Hoteldirektor geführt, der einen prächtigen Schnauzbart hat und erst von ein paar Wochen aus Dubai zurückkehrte. Einer der ersten Punkte auf seiner Tagesordnung, so erzählte er mir, sei es gewesen, den idealen Gast zu treffen. Er möchte umfassende Veränderungen am Hotel vornehmen und lädt mich zum Mittagessen ein, während dem wir beide Handschuhe und Masken tragen aufgrund irgendeiner neuen Epidemie, die wir beide als Witz betrachten.
Er lässt mich wissen, dass ich als idealer Gast involvierter im Hotel sein sollte, dass die neue Lounge als eine Art Bibliothek fungieren könne, für die ich dann verantwortlich wäre – natürlich würde ich dafür gebührend entlohnt werden. Er sagt, dass eine der Eigenschaften eines Bibliothekars die Liebenswürdigkeit sei, die ein idealer Gast ja kraft seines Daseins als idealer Gast bereits besitze. Er beendete unser Mittagessen mit der Bitte an mich, seinem Kind gelegentlich Geschichten vorzulesen und schlug in diesem Zusammenhang auch vor, dass ich doch dauerhaft in das Hotel einziehen solle.

Als Auswärtiger mit beschränkten Mitteln und einer maroden Behausung lebte ich nun plötzlich in einem piekfeinen Hotel.
Wenngleich ich nicht zu viel esse, so sind doch alle meine Ausgaben für Lebensmittel, alle Lebenshaltungskosten gedeckt. Ich hauche der Lounge Leben mittels der eklektischen Bibliothek, die ich etabliert habe, ein, und mit den ebenso eklektischen Sitzgelegenheiten: Sitzsäcke, Hängematten, Diwans und Eames-Stühle.

Meine engen Freunde, die mich regelmäßig besuchen, lasse ich im Café, in Tinellos, dem italienischen Restaurant und manchmal sogar in dem neuen japanischen Restaurant, dessen Namen ich immer wieder vergesse – es ist direkt neben der Lounge – bewirten. Zwischen dem Hoteldirektor und mir hat sich eine enge Freundschaft entwickelt.
Wir haben sogar das Café in ein edles Chai-Lokal, in dem auch frische Gewürze und Kräuter angeboten werden, umbauen lassen. Von der erstaunlich hohen Decke hängen, der dramaturgischen Wirkung wegen, Teetöpfe und tönerne Tassen.

In diesem Hotel älter zu werden ist ziemlich einfach gewesen, und ich habe zeitgleich begonnen, die Rolle und den Charakter eines idealen Gastes im Sinne eines sozialen Archetypen zu verstehen und weiterzuentwickeln; wenngleich dieser vielleicht nicht eine der tiefgründigsten Persönlichkeitstypologien sein mag, die die Gesellschaft hervorbringt – ich bin sicherlich kein Heiliger oder Buddha – so vermag sie doch einen tiefgreifenden Glanz zu entfachen, der die meisten Oberflächen vollkommen durchdringt.
Konsequenterweise begann ich, im Zuge der Entfaltung meiner Kleidung sowie der meines persönlichen Lebens Parallelen zwischen der Rolle des idealen Gastes und jener eines mittelalterlichen Höflings, zumindest was Etikette und Ausdrucksweise anbelangt, zu ziehen.

Gelegentlich kann ich gegenüber den Bediensteten des Hotels unwirsch erscheinen und habe gelernt, dass, wenngleich mir kein erheblicher Grad Anmut und sozialer Finesse angeboren sein mag, es mir doch im Laufe der Zeit, mit ausreichender Anstrengung und dem rechten Wissen, möglich ist, diese zu erlangen.
Ich habe begonnen, in Frage zu stellen, ob es denn ausreicht, wenn der ideale Gast sich wie ein nutzloser Dandy, der sich bedienen lässt, verhält?
Ich habe damit begonnen, auf meine Weise im Hotel auszuhelfen, imitiere sogar das Verhalten des Hoteldirektors, zumindest bei der Begrüßung von Gästen. Ich verstehe sehr wenig von finanziellen Dingen, doch kann man mich gelegentlich dabei beobachten, wie ich dem Direktor einen Ratschlag zuflüstere.
Da laut meines Astrologen der Merkur einen starken Einfluss auf mich hat, sei ich ein guter Bote und wäre oft von Nutzen, wenn es um die Weitergabe von Informationen und sensiblen Nachrichten ginge.
In irgendeinem Zukunftsszenario stelle ich mich als Gesandten eines einflussreichen Politikers vor.

Als ich zum ersten Mal im Hotel ankam, demonstrierte ich bewusst meine Manieren als Mahnung für die anderen Gäste, etablierte eine Art Präzedenz bezüglich Gebaren und Betragen, wie man sitzen, wie man sich gegenseitig ansprechen sollte. Dies kann jedoch, wie mir bewusst wurde, stets nur ein zeitlich begrenzter Auftritt sein, da ein idealer Gast, um authentisch zu sein, sich, selbst wenn er nicht beachtet wird, anmutig, gemäß den sozialen Umgangsformen, verhalten und somit nicht nur als Vorbild für andere dienen, sondern gleichsam das eigene Verhalten als für sich selbst bereichernd empfinden sollte. Der Status als idealer Gast, so könnte man konstatieren, sollte im Idealfall als Ehre, als eine Form Insignie des Selbst begriffen werden.

Der Hoteldirektor hält sich nicht mit solchen unwesentlichen Belanglosigkeiten auf; er hat wichtige Aufgaben zu erledigen. Wenn er in sein Zimmer im fünften Stock zurückkehrt, entkleidet er sich und verbringt den restlichen Abend in einem weißen Trägerhemd und Unterwäsche, während ich meinen maßgeschneiderten Schlafanzug trage, einen aus blauem Satin für die kälteren Monate. Ich trage diesen Schlafanzug, um darin zu schlafen, und kaum jemand hat mich je darin erblickt.
Ich habe niemals eine Frau hier empfangen, denn ein idealer Gast sollte keusch sein, an einen Kastraten gemahnen.

Der Hoteldirektor sagte mir einmal, ich solle vorsichtiger mit meinen Witzen sein, dass diese etwas gewagt geworden seien; dass, wenngleich die meisten Gäste meine Witze zu schätzen wissen würden – selbst jene auf ihre Kosten – , es dennoch jene gäbe, die mir meinen beißenden Humor übel nehmen würden, die deswegen einen Groll gegen mich hegen.
Ihrer Meinung nach wird von einem idealen Gast erwartet, dass dieser Gäste wie Hotelangestellte richtig einschätzen solle, bevor er irgend einen Miene aufsetzt, irgendetwas von sich gibt, selbst wenn er über sich selbst scherzt, da ein idealer Gast gegenüber anderen nicht als Narr erscheinen sollte, ganz gleich wie intelligent er auch tatsächlich sein möge.

Vielleicht pickte mich das Hotel heraus, weil ich gepflegt, sauber und nüchtern erschien.
Während des Auswahlprozesses ließen sie einen bekannten Astrologen, der zufälligerweise auch für die Zukunftsprognosen unseres Premierministers verantwortlich ist, mein Geburtshoroskop ansehen. Erst später erfuhr ich, dass mein drittes Haus einen starken Einfluss hat. Sie wollten jemanden, der gut kommunizieren kann, aber mein fünftes und siebentes Haus sind schwach ausgeprägt.
Ein idealer Gast sollte sich idealerweise nicht verlieben und zeitlebens Junggeselle und kinderlos bleiben. Der Astrologe sagte, dass ich nur schwer zu Frau und Kind kommen und deswegen einen guten idealen Gast abgeben würde.
So sehr, wie ich auch darin, ein idealer Gast zu sein, schwelgen mag, so sehr ist es doch auch etwas klaustrophobisch in diesem Hotel, in dem ich zwar eine Art Prominenz, doch zugleich auch Bediensteter bin.
Ich befürchte, dass ich im Falle eines Führungswechsels zurück auf die Straße geworfen werden könnte, dass ich zurückkehren müsste in meine gemietete, marode Wohnung und über den idealen Gast nur noch aus meiner Erinnerung heraus schreiben könnte.
Und das, obwohl die aktuelle Hotelführung nicht müde wird, die Bedeutung meiner Rolle zu betonen. Sie halten mich dazu an, stets die Maske aufzubehalten und sind unlängst noch wachsamer bezüglich der Umsetzung ihrer Vorschriften und Protokolle geworden. Sie scheinen mich stets, zu jedem Zeitpunkt, zu beobachten.
Ich stehe dem Hoteldirektor nahe, was die anderen eifersüchtig macht; sie fragen sich wohl, was ich denn getan habe, um mir meine Position in dem Hotel zu verdienen.
Ich schätze, das ist nun einmal die unsichere, unbeständige Position eines idealen Gastes – doch nimmt er diese zumindest auf eine vornehme, stilvolle Art und Weise ein.
Mein Status und meine Privilegien hier und, was das anbelangt, auch anderswo, haben weniger mit meinen Errungenschaften, meinem Rang oder meinem Lebenslauf zu tun, und fußen eher darauf, vom Hoteldirektor und Vorstand begünstigt zu werden.
Es wäre somit nur ganz natürlich, davon auszugehen, dass meine Wertvorstellungen weniger rigide, wandelbarer sind, als die anderer Personen, da mein Erfolg hier und anderswo größtenteils davon abhängt, wie gut es mir gelingt, mich vor verschiedensten Publika zu profilieren.

Im Lauf der Zeit, während ich mein Stilbewusstsein bezüglich Kleidung und meine guten Manieren entwickelte, begannen jedoch Herausforderungen, die physikalische Stärke und Mut erfordern, nicht nur meine eigene Zukunftsperspektiven im Hotel zu bedrohen, sondern auch jene anderer Angestellter und Gäste. Die ‚Eleganz‘ oder ‚raffinierten Umgangsformen‘, die ich als idealer Gast bis jetzt entwickelt habe, werden im Angesicht von Völkermord, Epidemien und Krieg kaum von Nutzen sein.
Das Kind des Hoteldirektors ist inzwischen zu einem Mädchen herangewachsen, dass aufs College geht, und der Hoteldirektor droht im Spaß tagtäglich damit, sich zur Ruhe zu setzen. Er sagt mir jedoch, ich solle mir keine Sorgen machen.
Vielleicht, sagt er, müsse ich nicht zu dem Leben, welches ich geführt habe, bevor ich der ideale Gast geworden bin, zurückkehren; vielleicht sollte einer der essenziellsten Aspekte des Daseins als idealer Gast sein, dass dieser die Krone des Hoteldirektors nach dessen Tode erben würde. Er fügt lachend an, dass es ihm lieber wäre, wenn ich abwarten würde, bis er von selbst stürbe.

All die Jahre über habe ich Paschtunen-Anzüge in allen Farben des Regenbogens als eine mehr oder weniger normale Tracht getragen. Sie werden von einem Herrenschneider, dessen Geschäft sich in derselben Straße wie das Hotel befindet, hergestellt. Diese Kleidung ist für mich so bequem, so behaglich geworden, dass ich vergessen habe, wie es sich anfühlt, Jeans oder Stoffhosen zu tragen. Die Belegschaft des Hotels glaubt wegen meiner Kleidung, meiner raubvogelartigen Gesichtszüge, meiner spitzen Nase und hellen Hautfarbe, ich stamme aus Pakistan.
Ich berichtige diesen Irrglauben nicht.
Ein idealer Gast sollte eine Maske tragen, die real ist, eine Maske, die um keinen Preis der Welt entfernt werden kann.
Die Hotelbelegschaft macht mir für mein Urdu Komplimente, vor allem bezüglich Aussprache und Wortwahl.
Sie begreifen nicht, dass ein idealer Gast keine sichtbare Vergangenheit hat, dass dieser, einem Flüchtling gleich, der eine Grenze überschreitet, von Grund auf eine neue Identität kultivieren muss.
Ich erzähle ihnen, meine Vorfahren stammen aus Peschawar und Dschalalabad, dass meine Großmutter mütterlicherseits eine Paschtune war, die Paschtu sprach.
Die Wahrheit ist natürlich, dass ich Urdu erst viel später lernte, da ich wusste, dass es eine Sprache der Gelehrten, des Respekts ist, die am Hofe des Mogulreichs gedieh, die ein passendes Register für einen Höfling oder einen idealen Gast hat.
Für ein Hotel in Gujarat muss ich exotisch, wie eine köstliche, seltene Frucht erscheinen.
In den letzten Jahren waren jedoch einige Gäste wenig beeindruckt und haben sich sogar beim Hoteldirektor beschwert, da ein hervorstechendes, an den Islam erinnerndes Erscheinungsbild und Auftreten bezüglich Gewandung und gesprochener Sprache eben nicht ein Ideal für einen idealen Gast sein solle.

Ich bin in diesem Hotel langsam gealtert und habe endlich alle notwendigen Umgangsformen erlernt, vor allem jene bezüglich Diskretion und der Fähigkeit, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Die Paschtunen-Anzüge liegen leblos in meinem Kleiderschrank. Ich trage sie nur noch spät nachts, wenn das Café menschenleer ist. Ich habe sogar Komponenten meiner Aussprache, insbesondere gutturale Laute, von denen die Leute glauben könnten, sie stammen aus dem Arabischen, abgemildert. Ich sehe mir die Nachrichten auf Hindi an; eine Rede des Premierministers, aber ich verstehe nicht wirklich, was er sagt. 

Im Frühling eines späteren Lebensjahres brach plötzlich eine verheerende Pandemie aus. Ich war bereits sechzig Jahre alt, doch in vielerlei Hinsicht ein herzlicherer Mann, als ich in jungen Jahren gewesen war. Der Hoteldirektor, der zwei Jahre älter als ich gewesen war, war an den Nebenwirkungen einer Impfung verstorben. Erst nach seinem Tod erfuhr ich, dass er nicht nur der Hoteldirektor, sondern auch der Besitzer des Hotels war.
Als Junggeselle altert man nicht so schnell, und jenseits ein paar grauer Haare, die nicht vollends unmodisch sind, war ich dünner geworden. Mein Taillenumfang hatte abgenommen, und ich begann, einem gealterten Adonis zu ähneln, noch immer Teil des Inventars, wie ein prunkvolles Möbelstück.

Doch wie sollte ein idealer Gast sich nun, mit dem Einbruch dieser Pandemie, verhalten, wie auftreten? Erwartet man von mir, mein Zimmer zu verlassen, überhaupt nach unten zu kommen? Was für ein Gast wäre ich denn, wenn ich in meinem Zimmer eingepfercht bliebe, komplett unter Quarantäne?
Das Hotel fasste die Entscheidung, dass zumindest ein idealer Gast, wenn schon sonst niemand, sich sozial distanzieren solle, um wenigstens dem Ideal zu dienen. Die Hoteldirektion beschloss erst, Bilder von mir über die sozialen Medien und die Fernsehmonitore an verschiedenen Orten des Hotels in Umlauf zu bringen, auf denen ich die Annehmlichkeiten meines Zimmers genoss und Kaffee mit der neuen Nespresso-Maschine, die sie vor Kurzem installiert hatten, brühte.
Der Kühlschrank war bis zum Rand bestückt mit Lebensmitteln, die ein Mindesthaltbarkeitsdatum von einem Jahr oder mehr hatten; schon bald jedoch verloren diese Fotographien und Videoaufnahmen ihre Strahlkraft, da den anderen Gästen auffiel, dass, ganz gleich wie angenehm die Aktivitäten eines idealen Gastes auch sein mochten, er doch stets allein war.

Um dem entgegenzuwirken, begann das Hotel Einsamkeit als essenzielle Eigenschaft eines idealen Gastes gutzuheißen und zu romantisieren, da die Abgeschiedenheit es dem idealen Gast ermögliche, nachdenklich, gedankenversunken zu erscheinen. So hatten Bilder und Videos sich weit verbreitet, in denen ich Kaffee trinke – ich war in meinen Fünfzigern, vielleicht als Symptom meines Verfalls, von Tee auf Kaffee umgestiegen – oder in denen ich aus dem Fenster meines Hotelzimmers blickte, nicht unähnlich des Virus selbst.
Ob ich nun als Versinnbildlichung eines Gastes herhalten sollte, ist vielleicht fraglich. Ein Gast, wie ich über lange Jahre hinweg gelernt habe, ist tatsächlich nichts Besonderes, aber im Lauf der Zeit sind Bilder von mir mit einem gewissen Grad an Raffinesse, Weltgewandtheit, Kultiviertheit assoziiert worden, während ich, zumindest unlängst, größtenteils meine Zeit allein in einem Hotelzimmer verbrachte.

Als das Virus endlich Anstalten machte, zu verschwinden, begann ich langsam wieder damit, in das Café hinunterzukommen, aber aus irgendeinem Grund war ich nicht mehr gesprächig, stach nicht mehr aus meiner Umgebung hervor. Ein Großteil der Hotelbelegschaft war während des unheilvollen Jahres ausgetauscht worden, also stand die Möglichkeit des Wiederauflebens alter Beziehungen außer Frage. Meine Zeit in Quarantäne hatte mich verstummen lassen, und da eine jede Person im Hotel mich dabei beobachtet hatte, wie ich in der Abgeschiedenheit meines Zimmers im Luxus schwelgte, sei es nun beim Verzehr belgischer Pralinen oder wenn ich Perrier-Mineralwasser trank und dabei doch stets einsam und gedankenversunken erschien, glaubten sie wohl, es wäre für sie zielführender, mich in Ruhe zu lassen und somit das Bild des idealen Gastes aufrechtzuerhalten.

Ins Deutsche übertragen von Thilo Graf

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