Vom Allerheiligsten

Und in diesem Buch standen all die Geschichten, all die Gedichte, all die Lieder ihrer Ahnen. Und das Buch war ihnen das Allerheiligste. Ein heller Stern in finstrer Nacht.

Sie zogen aus, da es hier nichts mehr zu gewinnen gab. Die Äcker waren dürr und unfruchtbar, der Krieg nahm ihnen ihre Besten. Der Hunger trieb wilde Wölfe in die Nähe ihrer Heimstätten, in denen nur noch eine Glut an die großen Herdfeuer erinnerte. Denn das Land war kahlgeschlagen. Und so zogen sie aus, um eine neue Heimat zu finden. Sie hatten nichts. Nichts war geblieben von ihrem alten Leben. Alles fiel dem Krieg und den Flammen zum Opfer, den Wölfen zuletzt. Nur eines zeugte davon: ein großes Buch. Und in diesem Buch standen all die Geschichten, all die Gedichte, all die Lieder ihrer Ahnen. Und das Buch war ihnen das Allerheiligste. Ein heller Stern in finstrer Nacht.

Nur der Höchste unter ihnen, der Alte – er zählte schon an die hundert Jahre – vermochte noch darin zu lesen. Und so las er ihnen vor und hielt die Erinnerung aufrecht. Lebendig im Widerhall noch von den Erzählungen der anderen Alten, die sich noch gut an die einstige Heimat erinnerten. Doch die Erinnerung wurde blasser mit der Zeit, denn die Jahre gingen, und mehr und mehr der Alten fielen Krankheiten und den wilden Tieren zum Opfer. Nur dem Alten schienen die Zeit und die Gefahren nichts anzuhaben, und so las er jeden Abend am Feuer aus dem großen Buch vor. Also war er bald der Einzige, der übrig war, der in der alten Heimat groß geworden war. Und die Jungen verstanden die Geschichten nicht mehr, verstanden schon langsam die Worte nicht mehr. So fern war die alte Heimat, dass die Jüngsten unter ihnen sie nie zu Gesicht bekommen hatten. Sie fragten den Alten, was die Worte bedeuteten:

Tempel. Burgen. Schlösser. Festsäle. Könige.

Der Alte tat, was er vermochte, doch die Jungen verstanden nicht mehr – und nichts mehr. Sie kannten nicht mehr die Orte, die sie besangen. Sie kannten nicht mehr die Feiertage ihrer Vorfahren. Sie feierten schon eigene Feste und eigenen Brauch.

Ob es ein Schlangenbiss war oder das schiere Alter, das dem Alten am Ende die Kehle zuschnürte, vermochte niemand zu sagen. Doch der Alte war von da an stumm. Und stumm und bitter trugen sie ihn, und stumm und bitter hielt er das Buch fest umschlossen. Doch kam es, dass ihm immer mehr die Kraft versagte, und so fiel ihm das Allerheiligste immer wieder aus den ermatteten Händen. Sie hoben es wieder und wieder vom staubigen Boden auf und hielten es dem Alten hin. Doch jedes Mal schien das Buch schwerer zu werden, und es kostete immer mehr Kraft, es dem Alten darzureichen.

Und so starb der Alte eines Tages. Und sie bestatteten ihn – zwar weniger ehrvoll, als noch ihre Vorfahren bestattet worden waren, doch mit aller Würde, derer sie noch habhaft waren. Und das Feuer brannte groß und hell und erleuchtete die Nacht. Und mit aller Liebe, mit aller Demut verabschiedeten sie sich von dem Letzten der Hohen. Es blieb ihnen nur das große Buch, das der Alte stets getragen, und die Sänfte, die den Alten stets getragen hatte. Also trugen sie das Buch auf der Sänfte. Und es war ihnen das Allerheiligste, das zu tun.

Und so kamen sie in eine Wüste. Und die Tage wurden heißer und die Nächte kälter. Immer schwerer wurde die Sänfte, und immer weniger wurde ihre Schar. Denn ihre Vorräte gingen zur Neige. Viele verloren sie an die Hitze, noch mehr jedoch an die karge Kälte der Nächte. Denn zu aufgezerrt waren sie vom Tage, als dass sie sich warmhalten konnten in der Nacht. Jeden Morgen erwachten weniger von ihnen. Sie hatten kein Holz mehr, um ihre Toten zu verbrennen, und so ließen sie sie einfach zurück. Die Not wurde groß und größer. Und in ihrer Not verbrannten sie ihre Wägen und all die Dinge, die ihre Väter aus der alten Heimat mitgenommen hatten, um es warm zu haben in der Nacht. Streit brach aus unter ihnen, wollten viele doch nicht die letzten Erinnerungen an die ferne Heimat opfern. Doch wärmten sie sich alle gemeinsam an den Feuern und waren dankbar. Bald war auch das letzte Holz verbrannt, und sie begannen wieder zu frieren. Und so verbrannten sie schließlich schweren Herzens die Sänfte, die den Alten und das Buch getragen hatte, um zu leben. Die Verzweiflung war groß in der Schar, da der Sand um sie herum kein Ende nahm. Nichts gab es in dieser Welt als den Sand und den Tod. Doch erschien ihnen allen im Traum der große Alte, und er prophezeite ihnen ein fruchtbares Land am nahen Ende der Wüste. Und mit neuem Eifer zogen sie weiter. Doch die Nacht forderte wieder ihre Toten. Und so kam es, dass sie das Buch des Alten, das sie so schwerlich durch die Wüste getragen hatten, zum ersten Mal wieder öffneten – in der Hoffnung auf eine Antwort. Und da erkannten sie, dass niemand mehr unter ihnen weilte, der es vermochte, darin zu lesen. Und so verbrannten sie die Seiten des Buches, um es warm zu haben in der Nacht.

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