Die Kamelzucht in der Amerikanischen Siedlung in Plittersdorf war eine Riesensache. Für die Menschheit im Allgemeinen. Für die Flüchtlinge im Besonderen. Jenen Davongelaufenen sollte sie Arbeit geben, jene Riesensache. Ein bisschen sollte sie auch allen anderen Arbeit geben. So wie das immer ist bei edlen und hilfreichen Sachen. Sie müssen für möglichst viele einen Sinn ergeben, dann dürfen sie auch Arbeit machen. Am Ende ziehen alle einen Nutzen daraus, denn es ist das Gute und Richtige, das sich da ausbreitet und auf die Menschheitsfamilie übergeht.
Aber noch war nichts passiert. Nur die Amerikanische Siedlung, die stand schon. Sie stand noch. Sie war in die Jahre gekommen und gehörte zu den Bauten, die es vor Ort schon etwas länger gab. Sie stand dort, im Bonner Süden, wo sie irgendwann in alter Zeit eine Siedlung errichtet hatten. Eine Siedlung für Amerikaner. Die waren inzwischen verzogen. Da stattdessen so manch zugefallenes Menschenbündel eine Bleibe suchte, bot sich hierfür die verlassene Siedlung an. Der Komfort der Wohnstätten war überschaubar, genügte aber humanitären Maßstäben. Jetzt fehlte nur noch eine gute PR. Eine richtig gute und glaubwürdige PR. Eine, die wirklich überzeugte, die den richtigen und guten und überzeugungsbereiten Menschen eine Wirklichkeit erklärte. Vielleicht sogar eine, in der sie bald selbst leben würden. Unter Kamelen und Flüchtlingen. Unter sehr vielen Kamelen und nicht weniger Flüchtlingen. Zucht und Zugewinn. Ein Geschäft, das sich lohnen sollte.
Das war eine echte Herausforderung. Das war nicht die Fahrzeugindustrie. Das waren keine Mähdrescher und Muldenkipper. Ihm wurde übel. Er hing zerrüttet im Stuhl und sog die braune Brühe ein. Eine Nacht zum Vergessen lag hinter ihm. Eine Nacht wie jede andere. Er hasste seine Kollegin. Er kannte sie nicht, aber er hasste sie. Ihre plötzliche Auswanderung war schuld an seiner Misere. Vielleicht lebte sie jetzt in Gelsenkirchen, die kleine Hashtag-Fotze. Oder in Opladen. Vielleicht würde es bald Krieg geben in Gelsenkirchen und Opladen. Vielleicht würden Gelsenkirchen und Opladen gegeneinander Krieg führen. Und zwar einen ganz und gar verheerenden mit fürchterlichen Folgen für die Zivilbevölkerung und erst recht für Hashtag-Fotzen aus der Werbebranche. Ganz besonders für die! Er bebte in Ekel-Erregung und malte sich schlimme Szenen aus: Kaum ausgewandert, musste sie schon wieder fliehen. Einem der endlosen Trecks schloss sie sich an, die Arme. Geistig umnachtet und körperlich deformiert fand sie schließlich in die alte Heimat zurück. An irgendeinem Nachmittag im April. War das überhaupt die alte Heimat? Gut möglich, dass sie irgendwo falsch abgebogen war. Flucht verlangte viel ab, da konnten Fehler passieren. Da konnte ganz viel passieren. Auf jeden Fall regnete es in Strömen, die gegen Abend in heftigen Hagel übergingen. Mit Körnern groß und schwer wie Billardkugeln. Doch das berührte sie nicht weiter, die Hashtag-Fotze. Sie würde einfach nicht-berührt bleiben. Nicht nur im Hagelgewitter ihrer Ankunft, sie würde für den Rest ihres Lebens nicht-berührt bleiben. Ein naheliegender Entschluss, denn das Schicksal hatte sie bereits hart angefasst. Es hatte sie hart anfassen lassen. Das dreckige Schicksal, es war mit auf die Reise gegangen. Die ganze Strecke hin. Die ganze Strecke zurück. Erst begleitete das Schicksal sie nur passiv. Nach einer Weile griff es dann aktiv ins Geschehen ein. Und in was für eins! In den Höllenschlund der Feindseligkeiten schob das Schicksal die kleine Hashtag-Fotze. Das Schicksal gab sich launisch, einmal mehr tat es das. Sie hingegen hoffte ins Ungewisse hinein. Unversehrt bleiben und zügig raus sein aus dem Gröbsten. Ein frommer Wunsch. Das Schicksal hatte anderes vor mit ihr, der armen kleinen Hashtag-Fotze aus der Bonner Agentur. Würde sie jemals wieder ihre Hashtags setzen dürfen? Eine Schicksalsfrage.
Die Kleine gab sich zäh. Aber nur am Anfang, dann irgendwann nicht mehr. Das dauerte seine Zeit. Flucht ist nervenaufreibend. Flucht ist zeitraubend. Und alles wird zu Fuß erlebt. Aus der Perspektive einer Fußgängerin geht schnell die Übersicht verloren. Ohnehin kommen die Erlebnisse und Begegnungen Schlag auf Schlag, wie der Hagelschauer zum Abschluss. Wenn nicht diese Übergriffe gewesen wären, morgens, mittags, abends, nachts natürlich auch und dann sehr heftig, die Zurückkehrende aus der Fremde hätte sich hysterisch aufgeregt. Hagel im April! Das konnte zwar vorkommen, war aber im Grunde eine Frechheit. In Empörung hätte sie entnervt vor sich hingesummt, die gestörte Büro-Maus. Sie hätte sich über diese erlebte Frechheit in den Gängen der Agentur ereifert. Sie hätte es in der Kaffeeküche herumerzählt und natürlich jedem, der sich in die Liste für das angenagte Rollholz eintragen wollte. Vermutlich hätte sie das getan. Wenn nach den Schlägen dieses Flackern nicht gewesen wäre. Die festen Griffe und harten Lektionen, die das Schicksal, das dreckige, für sie bereitgehalten hatte. Wäre ihr das nicht passiert, sie wäre ganz sicher ungehalten geworden über derartige Unannehmlichkeiten bei ihrer Wiederkehr. Hagel im April! Aber eigentlich, dieses verräterische Wort, das klang verdächtig nach gegenstandslos werden und genaugenommen war genau das mit ihr passiert. So wie das eben passiert auf der Flucht. Eigentlich. Hagel im April, das kam vor. Das würde immer wieder vorkommen, da gab es Schlimmeres. Sie kam zurück und wusste: allerdings. Doch sie wollte gar nichts mehr wissen. Nie wieder irgendetwas. Sie wollte auch gar nichts mehr wollen, außer mit letzter Kraft einige Erlebnisse tief in sich begraben und sie mit Sprachlosigkeit versiegeln. Für immer. Die kommenden Jahre wären dann dünn und grau abgeflossen. In der Agentur hätte sie angeknackst und stumm die Kaffeepads gezählt. Bei neun wäre ihr Konzentrationsvermögen ausgefallen und sie hätte von vorne begonnen. Das wäre ihr Arbeitsleben gewesen. Zumindest der Rest davon. Und es herrschte längst schon wieder Frieden auf Erden. Ein belastbarer Frieden zwischen Gelsenkirchen und Opladen. Städtepartnerschaft inklusive.
Er machte den Hirsch und röhrte sich die Brust frei. Geräusch der Befreiung. Dort, wo sein Gemüt in schwarzer Nacht den Tag verdaute, dort lockerten sich jetzt die Schichten. Schleier gingen nieder. Er schüttete die braune Brühe nach. In der Magengegend strahlte es gleichmäßig aus. Kein Keiler kam ihm hoch. Er sah ins Nichts und stöhnte heiser. Es ging gleichmäßig bei ihm. Es ging einigermaßen. Er zog den letzten Becher weg und kam in die Senkrechte. Zucht und Zugewinn. Morgen war es soweit. Morgen schon.
Auszug aus: Dreckswelt – Till Röcke
Erschienen bei: Edition Acéphale
Erhältlich auf: www.castrum.at