巌頭之感
I. – AI NO KORIDA
In den ersten Nachtstunden des 18. Mai 1936 stranguliert Sada Abe ihren Geliebten Kichizo Ishida. Während er schläft, wickelt sie den Obi [1] ihres Kimonos um seinen Hals. Wir können annehmen, dass er zwar aufwacht, sich aber nicht wehrt. Sie lässt erst wieder los, als Ishida vollständig zu atmen aufgehört hat. Sada liegt anschließend mehrere Stunden ruhig neben dem Leichnam. Danach ritzt sie ihren Namen (定) in die Haut seines linken Armes. Mit dem Blut schreibt sie folgenden Satz auf seinen Oberschenkel: Sada und Kichi Ishida – wir beide allein. (定、石田の吉二人キリ)
Eigentlich endet die Geschichte damit. Wer sie kennt, der wird vielleicht wissen, dass Sada außerdem Ishidas Geschlecht mit einem Messer von seinem Körper abgetrennt, und anschließend drei Tage lang, in Zeitungspapier eingewickelt und zwischen den Falten ihres Kimonos versteckt, bei sich getragen hat. Einem westlichen (oder eher: nicht-japanischen) Publikum wird der Vorfall in erster Linie durch seine filmische Bearbeitung – »Im Reich der Sinne« (1976 – Originaltitel: Ai no Korida = Stierkampf der Liebe) – von Nagisa Oshima bekannt sein. Auch im Rest des japanischen Kinos nach dem 2. Weltkrieg muss man diese tristansche, romantisch-groteske Verbindung zwischen Liebe und Tod, zwischen tragischer Lust und einem damit einhergehenden, unabwendbaren Verhängnis, nicht lange suchen.
Ob auf individuell-psychologischer (»Das Gesicht eines anderen« (1966) – Hiroshi Teshigahara), politisch-sozialer (»Eros + Massaker« (1969) – Yoshishige Yoshida), mythisch-theatralischer (»Doppelsuizid in Amijima« (1969) – Masahiro Shinoda) oder kosmisch-tragischer (»Shura« (1971) – Toshio Matsumoto) Ebene [2] – es geht hier nicht „nur“ darum eine klassische „star-crossed-lovers“ Thematik mit modern-filmischen Mitteln umzusetzen. Dass diese spezifische Form des japanischen Eros auf etwas anderes, anderswo im Verstand, in der Zusammensetzung des Menschen verortetes Moment hindeutet, zeigen der Fall Abe Sada und Oshimas Film unmissverständlich.
II. – PASSAGE À L’ACTE
»Im Reich der Sinne« existiert an der Schnittstelle zwischen Drama, Pornographie und Horror. Inhalt, Mittel und Sinn des Films lassen sich im Wesentlichen, besonders ab einem gewissen Punkt seiner Laufzeit, sehr einfach (und gleichzeitig unmöglich) zusammenfassen: Die wiederholte Darstellung des sexuellen Aktes. Graduell löst jegliche Handlung sich auf, verschwimmt, bis zum Ende des Films, immer weiter. Dialoge werden knapper, seltener. Auf der Leinwand bleiben bloß zwei ineinander verschlungene Körper, die sich, wie von unsichtbaren Zangen zusammen gezwungen, erst aufbäumen, dann erschlaffen und wieder aufbäumen. Diese immer von Neuem beginnenden, sich in ihrer Intensität potenzierenden Darstellungen sind aber nicht bloß kunstvoll inszenierte Vignetten [3] mit rein ästhetisch-erotischem Anreiz. Der Akt ist Inhalt. Der Akt ist dargestellt, aber nicht symbolisch, sondern mit sich selbst ident. Der Akt ist wirklich und wird deshalb filmische Realität. Der Akt ist Obsession, immer währender Drang, krankhafte Wiederholung. Auf diese Wiederholung kann aber, wenn sie, wie in Oshimas Film, bis zur äußersten Potenzierung, der kategorischen Absolutheit ihrer Forderung, vollzogen wird, nur der Tod folgen.
Schon vor »Tristan und Isolde« ist der Liebestod, als Ende und Verunendlichung der Zweisamkeit, keine Neuheit mehr gewesen. Nietzsches „Alle Lust will Ewigkeit“, erinnert uns an den Wunsch, über das Endliche hinaus genießen, mit dem Genuss in die Ewigkeit eingehen zu wollen. 10 Jahre vor »Im Reich der Sinne« war in Japan ein anderer Film, mit Musik aus Wagners »Tristan« untermalt, erschienen; Verglichen mit Oshimas Werk ein völlig anderer Film, der gleichzeitig eine tiefere Verwandtschaft mit »Im Reich der Sinne« aufweist – Die Rede ist von Yukio Mishimas »Patriotismus« (1966 – Originaltitel: Yūkoku), der filmischen Umsetzung einer gleichnamigen Kurzgeschichte des Autors. Mishima bildete darin, sowohl im Text als auch im Film, die letzte Liebesnacht eines jungen Leutnants mit seiner Ehefrau Reiko ab, bevor beide, aufgrund eines missglückten Putschversuches, nacheinander Seppuku begehen. Diese genau durchdachte, beinahe archetypisch inszenierte Darstellung des gemeinsamen, geteilten Freitodes, welche stark und bewusst an das traditionelle japanische Noh-Theater angelehnt ist, wurde oft als eine Art „Generalprobe“ für Mishimas tatsächlichen, ebenfalls mit einem versuchten Putsch verbundenen, Selbstmord im Jahr 1970 interpretiert.
Auf einer rein visuellen Ebene divergieren die beiden Werke stark. »Patriotismus« ist in schmucklos-strengem Schwarz-Weiß gehalten, spielt theatralisch mit Licht und Schatten. In »Im Reich der Sinne« glühen die Farben hingegen so grell wie die entblößten Körper, welche wir wieder und wieder zu Gesicht bekommen. Nichts ist wirklich verhüllt. »Patriotismus« dagegen ist völlige Verhüllung, trotz der Nacktheit der Haut, des Blutes und der Eingeweide, die nicht ausgespart wird. Über ihre Verschiedenheiten hinausgehend verbindet die Filme aber etwas Wesentliches: Die Form, die Art und Weise der reinen Visualisierung dessen, was thematisch behandelt, also „gezeigt“ wird, sind analog zueinander. Beide Filme zeigen sich in ihrem Kern obsessiv, radikal in ihrer Bildsprache, besessen vom Äußersten. Ihre Psychologien bleiben unterschiedlich. Vielleicht sind sogar ihre „Aussagen“, falls Oshima und Mishima sich noch tatsächlich zutrauten oder darum kümmerten, solche zu haben, einander diametral entgegengesetzt. Aber beide, Mishima und Oshima sind so weit gegangen, dass hier die Bilder selbst zum Inhalt werden. Der Akt allein straft die Worte Lügen.
III. – TRÄNEN DES EROS
Oshima gehört unter den Filmschaffenden Japans mit Sicherheit zu denjenigen, die am meisten „europäisch“ genannt werden könnten. Auch mit Mishima ist es, unabhängig seiner politischen Positionen, unter den Literaten nicht anders. »Im Reich der Sinne« musste, aufgrund des strengen japanischen Zensurgesetzes, in Frankreich produziert [4] werden und zuerst auch dort erscheinen. In Frankreich war es auch, wo Mishima schon an einem frühen Punkt innerhalb seiner Karriere am genauesten und umfangreichsten rezipiert wurde. Umgekehrt ist der Einfluss der französischen Literatur und Philosophie, besonders auf den jungen Mishima, ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Und noch aus dem Jahr 1970, dem Jahr seines Todes, liegt uns ein Text über den Schriftsteller und Theoretiker Georges Bataille vor, der Mishimas Hochachtung und innige Kenntnis der Werke des französischen Grenzdenkers bezeugt. Dass Bataille der Transgression als (anti-)ontologischem und künstlerischem Instrument, als Phänomen, welches über die Phänomenologie selbst hinausweist, einen dermaßen hohen Stellenwert im Verständnis des Anthropos beigemessen hat, ist von Mishima nicht unbeachtet geblieben – Ohne Zweifel erkannte der Japaner in dem Franzosen einen Geistesverwandten.
Mishima scheute sich in seinen literarischen Erzeugnissen nie davor die menschliche Psyche als einen Ort der Besessenheiten, als Brutstätte aller Perversion zu zeigen. Seine Protagonisten sind Getriebene, einer tragischen, schrankenlosen Form der Lust (oder einer Suche nach ihr) verpflichtet und auch die zwei zentralen Figuren in »Patriotismus« stellen dabei, so sehr sie gleichzeitig ein ästhetisch-politisches Ideal verkörpern, keine Ausnahme dar. Für Bataille ist ein solcher Zustand, diese verquere Art Schicksal, aber die conditio humana schlechthin. In seinen späteren, anthropo- und erotologischen Werken charakterisiert er die menschliche Sexualität als qualitativ grundlegend von der tierischen Brunft, dem reinen Reproduktionstrieb, abweichend. Die Erotik unterstehe beim Menschen immer einer Abweichung vom sozialen „Normzustand“ – dem der Selbsterhaltung und der zu diesem Zweck notwendigen Arbeit. Für Bataille ist sie die Auflösung der Konventionen, verweist, als Teil desselben, auf den Bereich der Feste, der Orgien und der Kriege, welche ihrerseits letztendlich auf eine noch tiefer liegende menschliche Erfahrung, einen Zustand der absoluten Unruhe und Ektase hinleiten. Jede sexuelle Betätigung sei deshalb grundlegend mit einem Verbot [5], zumindest mit einem Anhauch des Tabubruchs behaftet und führe auf eine absolute, nicht zweckrationale Verschwendung der Energien, eine „Bejahung des Lebens bis in den Tod“ [6] hin.
Das bedingungslose Verlangen nach Unendlichkeit ist paradoxal, lächerlich, und deshalb zutiefst menschlich. Wenn die Körper, im äußersten Paroxysmus von Genuss oder Schmerz, die beunruhigende Grenze ihrer eigenen Partikularität empfinden, und dennoch weiter gehen wollen, bestätigt sich darin das desaströs-affirmative Wesen der Erotik. Als Kichi von Sada erwürgt wird, hindert er sie nicht daran. [7] Reiko folgt ihrem Mann fraglos in den Tod. Aber warum? Warum lässt der Durst sich nie stillen? Ist es wirklich das Gesetz der schrankenlosen Affirmation, der totalen Verschwendung, ein Gesetz, das dem Tod spottet und ihn freudig entgegennimmt, welches die Körper immer aufs Neue aneinanderdrängt? Wozu eine ewige Wiederkunft? „Why does the sun take so long to die?“ [8], fragt Nick Land in seinem Werk zu Bataille. Es ist beinahe so, als könne selbst der Tod keine Linderung, kein endgültiges Ende bringen. Die Leinwand verdunkelt sich, der Film reißt, aber wir sind noch hier.
IV. – AM GIPFEL
Mishimas radikal-affirmative Haltung gegenüber der Körperlichkeit hat in »Patriotismus«, wie oben angedeutet wurde und auch aus dem Titel abzuleiten ist, genauso eine politisch-ideologische Dimension, die zum Verständnis des Werks nicht unwesentlich scheint. Als Mishima und Oshima sich einmal trafen, lamentierte Ersterer die Abwesenheit von tatsächlich „schönen“ Schauspielern in den Filmen des Zweiteren. [9] Diese Kritik bloß als romantisch-ästhetizistische Marotte Mishimas anzusehen, wäre aber zu kurz gegriffen. Der Leutnant und Reiko sind nicht, wie Sada Abe und Kichizo Ishida, direkt aus dem Leben hervorgegangene Filmcharaktere, sondern archetypische Kunstfiguren, bewegen sich beinahe wie lebendige Statuen. Das Noh-Theater, welches so sehr die stilistische Basis von »Patriotismus« bildet, hat nichts mit Mimesis zu tun. Im Hinblick darauf kann »Im Reich der Sinne«, dem hohen Maß an ästhetischer Obsession und narrativer Desintegration zum Trotz, nur als naturalistisch-psychologische Studie gelten.
Aber diese Zuschreibungen, alle kunsthistorischen Kategorien werden ihrerseits sinnlos, wenn man daran denkt, wie Sada Abe scheinbar nicht anders konnte, als ihren Geliebten zu Tode zu würgen. Mishimas Film kommt gänzlich ohne (gesprochene) Worte aus – Und leidet nicht darunter. Es ist lächerlich darüber nachzudenken, was Reiko sagen könnte, bevor sie sich ein Messer in den Hals stößt, und ihr Blut, weiß wie der zeugende Samen, auf die Wand hinter ihr spritzt. Immer existieren die Liebe und der Tod für den Menschen am Rand eines Abgrunds – dem des Schweigens. Bataille wusste, dass die Wahrheit, die hinter den Erscheinungen liegt, uns wieder und wieder, bis in den innersten Kern unseres Wesens, bis in die völlige Wortlosigkeit ängstigen wird. Sie hat nichts mit Gnosis zu tun. Auch nicht mit Vernunft. Es gibt kein Verschwinden und kein Aufgehen im Weltgeist. Die Bejahung des Lebens bis in den Tod spottet dem Verstand und all seinen falschen Erzeugnissen.
Selbst wenn im japanischen Eros, als ethnologischer Größe, die Verknüpfung von Schmerz und Lust, Verlangen und Todesangst, stärker auftritt und tiefer in die Kunst oder sogar das kulturelle Selbstverständnis eingegangen ist, deutet das nicht bloß auf eine „Eigenart“ der Japaner hin, sondern zeigt vielmehr die ihr zugrunde liegende, aber verborgene Koinzidenz dieser vermeintlichen Gegensätze auf. Hätte man Oshima gesagt, sein Film habe etwas mit Mishimas Seppuku zu tun, dem am meisten ritualisierten Ausnahmezustand aller Ausnahmezustände, er hätte einen vielleicht ausgelacht. Und vielleicht wäre Mishima bestürzt oder erzürnt über den Gedanken gewesen, das Bild seiner reinen Reiko habe etwas mit der „mordenden Prostituierten“ Sada Abe zu tun. Aber auch das tut nichts zur Sache. Die Unterschiede scheinen so unüberbrückbar, dass sie belanglos werden. Mit dem Blut ihres Geliebten hat Sada auf seinen Oberschenkel geschrieben: Sada und Kichi Ishida – wir beide allein. Zu den letzten Klängen aus dem »Tristan« thront über den Leichen von Reiko und dem Leutnant eine Tafel mit den Kanji für: Äußerste Hingabe (至誠). Der Film ist nicht gerissen. Fade to white – Aber keine Credits mehr. Der Projektor wirft sein Licht weiterhin über den leeren Saal.
K L I M A X
[1] = Gürtel
[2] Einige weitere Beispiele wären:
»Onibaba« (1964) – Kaneto Shindo
»Kwaidan« (1964) – Masaki Kobayashi
»Pfahl in meinem Fleisch« (1969) und »Dogra Magra« (1987) – Toshio Matsumoto
»Maruhi jorô seme jigoku« (1973) – Noboru Tanaka
»Im Reich der Leidenschaft« (1978) u.A. – Nagisa Oshima
»Dan Oniroku shoujo shibari ezu« (1980) – Masaru Konuma
»Früchte der Leidenschaft« (1981) – Shuji Terayama
[3] Wie etwa in den Filmen Borowczyks.
[4] Nicht aber gefilmt.
[5] Das Verbot stellt bei Bataille ein für die gesamte Erotik konstitutives Moment dar. Obwohl es die Erlaubtheit oder Nicht-Erlaubtheit gewisser Handlungen (Etwa: Liebesakt, Diebstahl, Gewaltanwendung, etc.) reguliert, ist es gleichzeitig Voraussetzung seiner eigenen Aufhebung, welche in bestimmten Situationen nicht nur erlaubt, sondern vielmehr erwünscht wird. Auch der Sphäre des Sexuellen verleiht es dadurch ihren doppelbödigen, virulenten Charakter.
[6] Georges Bataille – »Die Erotik«, S.19
[7] Bevor sie sich der Polizei stellte, plante Sada Abe außerdem, mit dem abgeschnittenen Glied ihres Geliebten von einem Wasserfall in den Tod zu springen.
[8] Nick Land – »The Thirst for Annihilation«, S.60
[9] Umgekehrt war Oshima auch von Mishimas Person und Werk nicht sonderlich angetan. Die politischen Spaltungen der japanischen Nachkriegszeit, spezifisch während den 60er Jahren, reichten, besonders in intellektuellen Kreisen, wohl zu tief, als dass zwischen den beiden je eine ernsthafte Annäherung hätte stattfinden können.
E.W.S.I.S.S.